Herbst-Vollversammlung: Afghanistan zwischen Hoffnungslosigkeit, Terror und den Taliban

Im Pressegespräch „Afghanistan zwischen Hoffnungslosigkeit, Terror und den Taliban – der Versuch einer friedensethischen Antwort“ bei der Herbst-Vollversammlung 2021 in Fulda sind heute (21. September 2021) aktuelle Fragen zum Machtwechsel in Afghanistan, der Situation für die Arbeit von kirchlichen Initiativen vor Ort sowie friedenspolitische und friedensethische Fragen erörtert worden.

Wir dokumentieren die Statements von:

Erzbischof Dr. Ludwig Schick (Bamberg), Vorsitzender der Kommission Weltkirche der Deutschen Bischofskonferenz
Mit dem überstürzten Abzug der internationalen Truppen der NATO aus Afghanistan und der schnellen Einnahme Kabuls durch die Taliban kam im August 2021 der längste Auslandseinsatz der Bundeswehr an sein Ende. Uns stehen noch die Bilder von Chaos und Panik am Flughafen von Kabul vor Augen. Die Lage wurde verschärft durch ein Selbstmordattentat des regionalen Ablegers des „Islamischen Staats“, das zahlreiche Todesopfer und Verletzte gefordert hat. Viele Afghanen sahen die einzige Rettung für sich und ihre Familien in einem der Flüge nach Doha oder Taschkent; auch jetzt warten noch viele auf die Ausreise. Eine gründliche Analyse der Ursachen, warum der Einsatz mit so viel Enttäuschung, Panik und Leid endete, steht noch aus. Die US-amerikanische und die europäische Politik müssen sich dieser Aufgabe stellen, auch um zukünftige Einsätze solcher Art besser durchzuführen. Sicherungs- und Verteidigungseinsätze müssen von vornherein als Friedensdienst geplant und durchgeführt werden. Viele sprechen vom gänzlichen Scheitern des internationalen Engagements. Das ist meines Erachtens zu früh. Aber deutlich ist schon jetzt: Das erklärte Ziel, Afghanistan dauerhaft zu stabilisieren, konnte auch nach 20 Jahren nicht erreicht werden! Es bedarf, wie ich meine, einer differenzierten und balancierteren Bewertung, bevor ein abschließendes Urteil gegeben wird. Zur Analyse gehört die Feststellung, dass es in all den Jahren des internationalen Engagements immer wieder Kämpfe, Überfälle und Selbstmordanschläge mit hohen Verlusten unter den Soldaten und in der Zivilbevölkerung gab.

Demokratische Strukturen haben keine tiefen Wurzeln geschlagen, auch wenn viele sich dies lange erhofft hatten. Es darf aber auch nicht unterschlagen werden, dass eine Generation von Afghaninnen und Afghanen neue Erfahrungen in einer freieren Gesellschaft machen konnte. Mädchen und Jungen konnten vermehrt Schulen besuchen, Männer und Frauen gemeinsam an Universitäten studieren. Ansätze einer lebendigen Zivilgesellschaft sind entstanden. Moderne Medien haben dafür gesorgt, dass viele Menschen Zugang zu Informationen hatten und am
Austausch von Meinungen teilhaben konnten. Das Engagement im Bereich der Basisgesundheit führte in einigen Regionen des Landes zu einer beachtlichen Reduzierung der Mütter- und Kindersterblichkeit. All das gehört auch zur Bilanz des internationalen Afghanistan-Engagements der zurückliegenden 20 Jahre. Dafür dürfen wir dankbar sein und den Menschen danken, die sich
für eine Erneuerung der gesellschaftlichen und staatlichen Strukturen eingesetzt haben. Dies gilt für die staatliche Entwicklungszusammenarbeit, ebenso für zivilgesellschaftliche Organisationen und nicht zuletzt auch für die kirchlichen Einrichtungen aus Deutschland. Namentlich möchte ich hier Caritas international und Misereor erwähnen, die in vielen Projekten dafür tätig waren, dass die Menschen in Afghanistan Träger ihrer eigenen Entwicklung werden konnten. Die jüngsten Ereignisse haben diese positive Entwicklung abgebrochen und die afghanische Gesellschaft in ihrer Entwicklung zurückgeworfen. Aber viele Menschen reagieren heute anders auf die erneute Machtübernahme durch die Taliban als vor 20 Jahren. Das weckt die vorsichtige Hoffnung, dass die guten Erfahrungen, die Afghaninnen und Afghanen in den letzten zwei Jahrzehnten gemacht haben, langfristig zu einer neuen demokratischen und gemeinwohlorientierten Gesellschaft beitragen können. Die Erneuerung Afghanistans durch den militärischen und internationalen polizeilichen Einsatz hat nicht zu dem angestrebten Erfolg geführt. Aber es wurden Freiräume eröffnet, die einzelne Personen und zivilgesellschaftliche Organisationen genutzt haben, die hoffentlich auch vorhanden bleiben und für eine bessere Zukunft Afghanistans langfristig wirken. Dafür möchte
ich all denen, die als Polizisten und Soldaten ihren Beitrag dazu geleistet haben, danken. Diejenigen, die in ihrem Einsatz ums Leben gekommen sind oder schwere körperliche und psychische Schäden davongetragen haben, müssen in ehrender Erinnerung bleiben. Auch an die Familien und Angehörigen müssen wir denken und ihnen beistehen. Es sind in den vergangenen Jahren tiefe Beziehungen zwischen der „westlichen Welt“ und Menschen und Organisationen in Afghanistan aufgebaut worden. Damit haben wir Verantwortung füreinander übernommen. Die Beziehungen wurden nun enttäuscht; durch den Abzug haben wir Menschen im Stich gelassen, die sich eine andere Zukunft für ihr Land gewünscht haben. Es ist notwendig, dass wir uns dieser Verantwortung stellen.

Besonders bedrückend ist, dass viele, die mit der Bundeswehr oder mit internationalen Organisationen zusammengearbeitet haben und deshalb jetzt zu den besonders Gefährdeten gehören, darunter auch Personen mit der Zusage einer Aufnahme in Deutschland, in der Kürze der Zeit nicht evakuiert werden konnten. Es bedarf eines unbürokratischen Verfahrens, um sie so schnell wie möglich nach Deutschland zu bringen. Auch Schutzbedürftige, die bisher nicht auf der Evakuierungsliste standen, etwa weil sie während der Evakuierungsmission nicht in Kabul waren, müssen eine Chance bekommen, sich zu registrieren. Ich weiß um die entsprechenden Bemühungen der Bundesregierung. Sie müssen trotz aller widrigen Umstände mit Nachdruck und Entschlossenheit fortgesetzt werden. Die schwierige Lage der afghanischen Bevölkerung hat bereits zu Fluchtbewegungen in die Anrainerstaaten geführt und es steht zu befürchten, dass sich in der nahen Zukunft noch viel mehr Menschen auf den Weg machen. Dies zeigt erneut, wie wichtig die Stärkung des Flüchtlingsschutzes weltweit ist. Eine substanzielle Hilfe für die Flüchtlinge in den Nachbarländern Afghanistans ist hier ein wichtiger Schritt und es ist gut, dass Deutschland und die Europäische Union die Zusammenarbeit mit diesen Ländern suchen. Aber niemand sollte sich der Illusion hingeben, dass nicht auch Europa vermehrt zum Zielort schutzsuchender Afghanen werden wird. Eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik, die von Solidarität und Fairness geprägt ist, bleibt deshalb ein Desiderat, das auch die Kirchen immer wieder anmahnen. Europa darf die außereuropäischen Erstaufnahmestaaten nicht allein lassen und ebenso wenig die Grenzstaaten der EU. Eine angemessene Verantwortungs- und Lastenteilung zwischen den Staaten Europas wird immer dringlicher. Eine „humanitäre Koalition“ zwischen den aufnahmebereiten Staaten ist ein notwendiger erster Schritt in diese Richtung, wenn sich nicht alle 27 EU-Mitgliedstaaten auf eine Lösung verständigen können. Wir hoffen, dass auch Deutschland zu einer großzügigen Aufnahme von Menschen bereit ist, die wegen ihrer Verbundenheit mit den Werten eines erneuerten Afghanistans gefährdet sind. Solidarität gegenüber Schutzsuchenden bleibt geboten. Sie ist eine menschenrechtliche und allemal eine christliche Verpflichtung. Niemand weiß, wie sich die Verhältnisse in Afghanistan entwickeln werden. Aber in jedem Fall sollten die Spielräume der Hilfe, die sich der internationalen Gemeinschaft bieten, genutzt werden. Eine grundsätzliche Verweigerung, mit den Taliban zu sprechen und zu verhandeln, ist deshalb kein brauchbarer Ansatz. Die Afghanen haben ein Recht darauf, angesichts der prekären humanitären Notlage, die sich sogar zu einer Hungerkatastrophe ausweiten könnte, nicht allein gelassen zu werden. So viel kann gesagt werden: Auch den kirchlichen Organisationen sind enge Grenzen gesetzt. Aber sie stehen bereit, alles ihnen Mögliche zu tun.

Bischof Dr. Franz-Josef Overbeck (Essen), Militärbischof für die Deutsche Bundeswehr

Mit einem Tagesbefehl der Bundesministerin der Verteidigung und des Generalinspekteurs vom 31. August dieses Jahres wurde der bisher gefährlichste Einsatz in der Geschichte der Bundeswehr in Afghanistan beendet. Das mit ihm in Verbindung stehende Erbe sind moralische und humanitäre Herausforderungen, die nach Antworten verlangen und im Leid vieler Menschen deutlich werden: sowohl im Leid der Afghanistan-Veteranen und ihrer Angehörigen, die viele Verletzungen an Leib und Seele erlitten haben, als auch im Leid der afghanischen Bevölkerung, die jetzt unter dem Regime der Taliban leben muss. Ebenso wie die Evangelische Militärseelsorge hat die Katholische Militärseelsorge seit Beginn des Einsatzes im Jahr 2002 Soldaten und ihre Angehörigen begleitet und wird auch in Zukunft an ihrer Seite stehen. Die Seelsorger haben mit den Soldaten viele der eingeschränkten Lebensumstände und Gefahren in den Einsatzgebieten geteilt und sich so als wichtige Gesprächspartner für alle Soldaten, unabhängig von der Konfessionszugehörigkeit oder dem Dienstgrad, erwiesen. Ein Seelsorger berichtete im Rahmen seiner Erfahrungen in Afghanistan davon, dass ein Soldat einmal zu ihm gesagt habe, er besuche den Gottesdienst im Feldlager, da dieser eine Möglichkeit biete, Sorgen und Gefahren für einige wichtige Momente in den Hintergrund treten zu lassen. Aus diesem Grund hätte es auch eine hohe Nachfrage nach Ritualen wie Adventfeiern gegeben, da sie Sicherheit und Heimat in der Fremde vermittelten.

Besonders herausfordernd war für viele Soldaten der Umgang mit der permanenten Bedrohungssituation, insbesondere außerhalb der Feldlager. Die schreckliche Erfahrung, dass vertraute Kameraden getötet oder verwundet wurden, ging oft mit einer tiefen, existenziellen Erschütterung der eigenen Identität einher. 59 Soldaten kamen nicht mehr lebend in die Heimat zurück, viele andere bleiben dauerhaft verwundet an Körper und Seele. Das, was die Soldaten im Einsatz erleben und erleiden mussten, prägte und veränderte häufig auch den Lebensalltag vieler Angehöriger in Deutschland. Die Umsetzung des parlamentarischen Auftrags, sich für Schwächere einzusetzen und dabei mitzuwirken, die Bedingungen für die Menschen in Afghanistan zu verbessern, hatte für zahlreiche Soldaten und ihre Angehörigen einen hohen Preis. Ihr Einsatz und ihr Engagement für Frieden, Stabilität und Gerechtigkeit verdient auch darum unbedingte Würdigung. In der Bewältigung der Folgen muss ihnen jede Unterstützung zuteilwerden, die sie benötigen.

Die Bilder vom Flughafen Kabul aus den Augusttagen, als viele Afghanen verzweifelt versuchten, den unmenschlichen Verhältnissen zu entkommen, sind uns allen noch sehr präsent. Soldaten mussten vor Ort miterleben, wie alles, wofür sie jahrelang eingetreten sind, in einem Desaster endete. Die Gewissheit, zahlreiche Menschen nicht weiter vor dem Zugriff der Taliban schützen zu können, bleibt für viele Soldaten eine schwere Belastung. Ging es während des Einsatzes häufig um Perspektiven, wie der einzelne Soldat die Anwendung von Gewalt mit seinem Gewissen in Einklang bringen kann, stehen sie jetzt vor der Herausforderung, das Einsatzende und die damit ebenso verbundenen individuellen Folgen zu bewältigen. Die Seelsorge bietet hierfür geschützte Räume, in denen vertrauensvolle Gespräche – unabhängig von Dienstgrad oder Disziplinarordnung – möglich sind. Diesen Refugien, in denen ausschließlich die Sorgen und Nöte der Person zählen, kommt eine bedeutende Schlüsselrolle zu. In Kabul hing am Pfarrbüro in den Anfängen des Einsatzes ein Schild „Befehlsfreie Zone“, das diese unbedingte Zugewandtheit symbolisch verdichtet in Worte fasst.

Als der Einsatz mit dem Karfreitagsgefecht und den späteren Kämpfen im Jahr 2010 seine brutale Seite offenbarte, haben unsere Seelsorger viele Grenzerfahrungen erlebt, mussten Soldaten intensiv Trost spenden und mit ihnen lernen, gemeinsam mit der schrecklichen Situation umzugehen. Sie haben beigestanden, als Angehörige in der Heimat durch Vorgesetzte von deren Tod informiert wurden. Das hat sie nachhaltig geprägt und verändert. Sie redeten aber auch völlig selbstverständlich mit den Soldaten über deren Gewissensnot nach einem Gefecht, wenn sie sich fragten: „Habe ich jemanden verletzt oder erschossen, und war das gerechtfertigt?“ Für die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr ist in der Tat nämlich das Gewissen die letzte Urteilsinstanz. In dieser Gewissenserforschung steht die Katholische Militärseelsorge mit klaren Werten und Prinzipien an der Seite der Soldaten: als Ratgeber, als Diskussionspartner, als Orientierungshilfe. Schon vor dem Einsatz beginnt dieser Prozess und wird besonders intensiv, wenn die Seelsorger mit den Soldaten, die mit ihnen in den Einsatz gehen, die gleiche Ausbildung durchlaufen. Das schafft unter den Soldaten viel Vertrauen.

Der Einsatz in Afghanistan ist formal beendet. In den Erinnerungen aber bleiben die Namen der gefallenen Kameraden präsent. Im Wald der Erinnerung in Schwielowsee bei Potsdam und am Ehrenmal in der Berliner Stauffenbergstraße wird ihrer gedacht. Ortsangaben wie Kunduz, Masar-i Sharif oder OP North bleiben auch in Zukunft mit den prägenden Erfahrungen des Einsatzes verbunden. Alle, die ihre Eindrücke noch nicht verarbeiten konnten, die an Verwundungen leiden und die seelisch verletzt sind, verpflichten uns als Katholische Militärseelsorge weiterhin dazu, unseren Dienst am Nächsten zu tun und Soldaten nach unseren Möglichkeiten in der Seelsorge das anzubieten, was sie jeweils als Person benötigen. Das ist konkrete Kirche unter den Soldaten. Die Katholische Militärseelsorge wird die Erfahrungen des Einsatzes weiter intensiv reflektieren und weiterhin mit der Evangelischen und künftig der Jüdischen Militärseelsorge die Soldatinnen und Soldaten im Dienst und in allen Lebenslagen begleiten. Eine Präsenz bei den Soldaten ist aber nur möglich, weil die Bistümer und Ordensgemeinschaften in Deutschland großzügig geistliche und pastorale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu diesem Dienst freistellen, wofür ihnen aller Dank gebührt, weil dies ermöglicht, dass sich die Militärseelsorge weiterhin in die ethische Gewissensbildung der Soldaten und ihrer Begleitung einbringen und stets zum Wohle aller Menschen in Uniform und ihrer Angehörigen handeln kann.

Bischof Dr. Heiner Wilmer (Hildesheim), Vorsitzender der Deutschen Kommission Justitia et Pax
Die Deutsche Kommission Justitia et Pax, deren Vorsitzender ich bin, befasst sich mit internationalen Entwicklungen in einer friedens-, menschenrechts- und entwicklungspolitischen Perspektive. Wir haben uns auch schon früher immer einmal wieder zur Situation in Afghanistan geäußert. Mein Vorgänger Bischof Ackermann hatte sich 2013 vor Ort ein Bild von der Lage gemacht.

Eines war dabei immer klar: Die schwierige und komplexe Situation in Afghanistan sowie des internationalen Engagements dort lässt sich mit der Perspektive des „War on terror“ nur höchst unzulänglich erfassen. Vielleicht – nein höchstwahrscheinlich – hat dieser Blick, der die Verhältnisse dort vor allem aus der Perspektive unserer kurzfristigen Sicherheitsinteressen wahrnahm, zu jener verengten Politik beigetragen, deren Scheitern wir gerade erleben. Die Entwicklung eines Landes muss immer auf den Menschen des Landes, ihren Bedürfnissen und Perspektiven ruhen. Wirksame Unterstützung von außen weiß, dass sie sich mit den Menschen und ihrer Kultur verbinden muss. Dazu braucht es Verbindlichkeit, Respekt, Geduld und die Fähigkeit, sich auf die Kultur der anderen einzulassen. Es kann und darf nie darum gehen, unsere Lebensweise eins zu eins zu implementieren. Vielmehr gilt es, gemeinsam mit den Menschen und vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen Antworten auf die Frage zu finden, wie eine menschenwürdige Gesellschaft aussehen kann, wie Partizipation und Gemeinwohlorientierung gewährleistet werden können. Heute stehen wir vor den Trümmern des internationalen Engagements. Und es macht viele, auch mich, ratlos und auch wütend, wie unvorbereitet und wenig geordnet die westlichen Kräfte auf die Entwicklungen reagieren. Der Umgang mit den Ortskräften, die für die deutschen Einrichtungen gearbeitet haben, ist dabei eines der bedrückendsten Beispiele. Und es sollte niemand sagen, das wäre alles völlig überraschend gekommen. Schon seit dem Frühjahr wurde immer wieder auf dieses Problem hingewiesen. Das war schlicht Bad Governance. Die Folgen dieses von vielen als Verrat empfundenen Verhaltens werden langfristig spürbar sein. Die dramatischen Bilder im Zusammenhang des sich überstürzenden Rückzugs sowie die beunruhigenden Nachrichten aus Afghanistan sollten uns allerdings nicht dazu verleiten, das gesamte Engagement der letzten 20 Jahre in Afghanistan in Bausch und Bogen zu verurteilen. Denn: Eine Versuchung der aktuellen Lage besteht darin, wegzuschauen und anderen die Schuld zuzuschieben – und damit dem eigenen Unbehagen angesichts des Scheiterns vorschnell auszuweichen.

Gefragt sind stattdessen: Augenmaß, Beständigkeit und die Bereitschaft, sich auch mit unerfreulichen Erfahrungen auseinanderzusetzen und Fehler klar zu benennen. Gefragt ist eine Nachdenklichkeit, die über die übliche mediale Aufmerksamkeitsspanne hinausreicht. Das Scheitern des Westens in Afghanistan ist für viele eine narzisstische Kränkung, für andere eine willkommene Genugtuung. Beides sind aber keine guten Motive für die Auseinandersetzung, die wir brauchen. Denn die Menschen in Afghanistan geraten dabei allzu schnell aus dem Blick oder werden nur verzerrt wahrgenommen. Nehmen wir ein Beispiel: Dem islamistischen Terror einen damals für ihn wichtigen Rückzugs- und Vorbereitungsraum zu nehmen, war ein wichtiger Beitrag zur globalen Sicherheit. Und ich befürchte, dass wir auch in Zukunft gelegentlich vor der Frage stehen werden, ob mit militärischer Gewalt terroristische Strukturen zerschlagen werden sollen. Aber zu fragen ist nach den konkreten Strategien und ihren Umsetzungen sowie den ihnen zugrundeliegenden Grundannahmen. Und zu fragen ist auch, warum die Menschen in Afghanistan der neuerlichen Herrschaft der Taliban so wenig entgegenzusetzen hatten, warum es nicht gelungen ist, eine tragfähige öffentliche Ordnung zu errichten. Ich frage mich schon, warum die Bundesrepublik ihrer internationalen Verantwortung zum Aufbau von afghanischen Polizeikräften so wenig überzeugend nachgekommen ist. Es stellt sich zudem die Frage, ob wir die bedrohlichen Potenziale der organisierten Kriminalität, über die sich die Taliban finanzierten, nicht allzu lange unterschätzt haben. Wenn ja – warum? Die Fragen, die wir zu besprechen haben, können einen wesentlichen Beitrag zu einer nachhaltigeren Friedens- und Sicherheitspolitik leisten. Dabei kommt es wesentlich darauf an, eine umfassende Perspektive zu entwickeln und nicht allein bei den militärischen Dimensionen des Einsatzes stehen zu bleiben. Denn ich vermute, dieses Engagement ist nicht so sehr militärisch, sondern vielmehr politisch-kulturell gescheitert.

Wir sind gut beraten, uns Zeit für eine gründliche und ernsthafte Auseinandersetzung zu nehmen. Das gilt für den Deutschen Bundestag, die verschiedenen Ministerien, aber auch die Zivilgesellschaft und die Religionsgemeinschaften. Das kann und sollte ungemütlich werden. Es ist Zeit für eine offenere und zugleich verbindlichere öffentliche Diskussion. Das schließt den kritischen Austausch mit unseren internationalen Partnern und insbesondere mit den US-Amerikanern ausdrücklich mit ein. Stellen wir uns den damit verbundenen Konflikten nicht, dann besteht die große Gefahr, dass wir notwenige Lehren nicht ziehen, sondern in unseren einzelnen Perspektiven und Kränkungen verharren. Darauf läge kein Segen. Beim ernsthaften Blick auf das vielfältige Engagement in Afghanistan kommen neben den Soldaten auch die Polizisten, die vielen zivilen Fachkräfte sowie die afghanischen Kräfte in den Blick, die sich für eine gute Entwicklung Afghanistans eingesetzt haben. Auch wenn Vieles im Augenblick verloren scheint: Ernsthafte, von einem guten Geist getragene Tätigkeit ist nie umsonst. Die Früchte zeigen sich oftmals erst später. Daher gilt auch mein Dank allen, die sich für die Menschen in Afghanistan unter oftmals erheblichen Risiken eingesetzt haben und weiter einsetzen.