Studie zu sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche vorgestellt

In einer Pressekonferenz während der Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda ist die MHG-Studie vorgestellt worden. „Missbrauch in der Kirche bekämpfen. Wir müssen ein Klima schaffen, in dem auch andere den Mut fassen, ihr Leid und ihre Verletzungen aufzuarbeiten. Wir haben zu lange weggeschaut, um der Institution willen und des Schutzes von uns Bischöfen und Priestern willen. Wir lassen Machtstrukturen zu und haben meist einen Klerikalismus gefördert, der wiederum Gewalt und Missbrauch begünstigt hat. Unsere Selbstverpflichtungen von 2010 konnten wir zum Teil einlösen, aber wir sind damit nicht am Ende, sondern die Ergebnisse dieser Studie zeigen klar auf, dass wir weitergehen müssen“, so Kardinal Reinhard Marx, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz.

„Die Auseinandersetzung mit sexueller Gewalt im Raum der Kirche fordert weiterhin unser engagiertes und überzeugendes Handeln. Nochmals: Als Kirche stehen wir in der Verantwortung und müssen Verantwortung übernehmen. Als Kirche wollen wir neues Vertrauen aufbauen und nicht enttäuschen. Ich weiß, dass das schwer ist. Ich verstehe viele, die sagen: Wir glauben euch nicht. Ich hoffe sehr, dass wir Vertrauen zurückgewinnen können. Und, um es klar zu sagen, es geht dabei nicht um die Rettung einer Institution. Heute Vormittag haben wir durch das Forscherkonsortium eine umfassende Präsentation bekommen. Die Auseinandersetzung mit den Ergebnissen und den Konsequenzen ist damit nicht abgeschlossen, sondern beginnt jetzt. Der Blick in die Vergangenheit war und ist notwendig, um jetzt entschlossen einen neuen Abschnitt zu wagen. An dieser Stelle sage ich auch einen aufrichtigen Dank: Dem Forscherkonsortium, das sich dieser herausfordernden Aufgabe gestellt hat und all denjenigen, die das Projekt in den Bistümern unterstützt haben. Ich bin dankbar den Experten von außen, die dem Konsortium, aber auch uns geholfen haben, den Blick kritisch auszurichten. Es waren und sind Menschen, die wir um Rat bitten können, um Änderungen herbeizuführen. Und natürlich bin ich dankbar all jenen, die zum Gespräch bereit waren: Betroffene, Täter und unschuldige Priester“, so Marx weiter.

„Die Studie greift mit ihren Aussagen auch in eine weltkirchliche Debatte ein. Den Heiligen Vater habe ich über die Ergebnisse schon kurz informiert. Er hat die Vorsitzenden aller nationalen Bischofskonferenzen auf Empfehlung des C9-Rates für den Februar kommenden Jahres in den Vatikan eingeladen. Ich begrüße diesen Schritt außerordentlich. Zur Vertiefung der Debatte kann auch bereits die im Oktober in Rom tagende Weltbischofssynode zur Jugend beitragen. Ich werde – ebenso wie die anderen deutschen Synodenväter – auch dort das Thema des sexuellen Missbrauchs und die Erkenntnisse der Studie zur Sprache bringen. Das Thema darf bei der Synode nicht ausgeblendet werden. Mit der Studie wird uns bewusst gemacht, dass wir den Kurs der Wahrhaftigkeit und unseren Einsatz für den Kinderschutz in der von Papst Franziskus vorgegebenen Weise fortführen und verstärken müssen. Um der Betroffenen willen. Um der Kirche willen. Und um einer neuen Vertrauensbasis und Glaubwürdigkeit willen“, erläuterte Marx.

Müller-Piepenkötter: Die Verantwortlichen müssen sich den Opfern selbst stellen

Staatsministerin a. D. Roswitha Müller-Piepenkötter, Mitglied im Beirat der Studie sagte: „Wenn die katholische Kirche in Deutschland ihrem aus dem Christentum an sich selbst zu stellenden Anspruch gerecht werden will, muss sie den Weg der Aufarbeitung strikt fortsetzen und in wichtigen Punkten radikal ändern. Bei allen Vorbehalten hinsichtlich der Repräsentativität werden der erschreckende Umfang und die Schwere der von Priestern der katholischen Kirche begangenen Missbrauchstaten und deren gravierende Folgen offensichtlich. Wenn in einer Größenordnung von 5 Prozent Kleriker durch Missbrauchstaten belastet sind, kann man nicht mehr von Einzelfällen sprechen. Das bedeutet vor allem, dass es nicht damit getan sein kann, diese als Einzelfälle zu bedauern und abzuwickeln. Die Studie belegt auch, dass es sich nicht um ein vergangenes Problem handelt – Fälle bis 2014 sind festgestellt worden. Vielmehr ist davon auszugehen, dass auch für die nahe Vergangenheit und für die Zukunft mit solchen Fällen zu rechnen ist. Deshalb besteht eine dringende Pflicht zum Handeln. Das Ergebnis der Untersuchung zeigt, wie dringend notwendig eine solche Studie war. Sie kann die Grundlage für einen den Opfern gerecht werdenden Umgang mit ihnen und für wirksame Prävention sein. Auch der Umgang mit Opfern in den letzten Jahren ist trotz aller Bemühungen des Missbrauchsbeauftragten der Bischofskonferenz zu überprüfen. Die Studie bestätigt alle Erfahrungen über die Folgen von Sexualdelikten. Dazu gehören insbesondere Störungen des Selbstbildes und Leiden unter Kontrollverlust, die sich in sozialen Beziehungen und gesellschaftlicher Teilhabe auswirken. Dem kann nicht allein durch materielle Entschädigung und Unterstützung bei Therapien entgegengewirkt werden. Die Verantwortlichen müssen sich den Opfern selbst stellen und dürfen diese Aufgabe nicht an Missbrauchs- und Interventionsbeauftrage delegieren. Das fordern Opfer zu Recht. Erst dann wird die Kirche in ihrem Kampf gegen Missbrauch in den eigenen Reihen und für Gerechtigkeit für dessen Opfer glaubwürdig.“

Ackermann: Ich habe das Ergebnis der vorliegenden Studie leider erwartet

„Ich habe das Ergebnis der vorliegenden Studie leider erwartet. Es erschreckt mich dennoch wieder neu. Wir wollten von den Forscherinnen und Forschern wissen, wo im Bereich der katholischen Kirche besondere Risikofaktoren liegen, welche Strukturen und Dynamiken das Missbrauchsgeschehen begünstigen können. Jetzt haben wir die Antwort. Der Forschungsbericht gibt uns deutliche Hinweise. Seit acht Jahren nehme ich die Aufgabe des Beauftragten der Deutschen Bischofskonferenz für die Fragen des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger im kirchlichen Bereich wahr. Seitdem gehört dieses Thema zu meinem Alltag. Seitdem prägt es meinen Dienst und mein Leben als Bischof. Und doch ist dieses Thema für mich bis heute keine Normalität. Im Gegenteil: Je mehr Zeugnisse von Betroffenen ich über die Jahre gelesen oder gehört habe, umso mehr sind meine Abscheu und meine Wut gegen diese Art von Verbrechen gewachsen. Männer, denen aufgrund ihrer Weihe und ihres Auftrags ein besonderes Vertrauen entgegengebracht wurde und die daher auch eine besondere Verantwortung hatten, haben Kinder und Jugendliche für ihre Bedürfnisse manipuliert und missbraucht. Die Opfer sind dadurch für ihr Leben gezeichnet und durch die Folgen der Gewalt vielfach massiv beeinträchtigt“, so Bischof Dr. Stephan Ackermann, Beauftragter der Deutschen Bischofskonferenz für Fragen des sexuellen Missbrauchs im kirchlichen Bereich.

„Wir haben in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Maßnahmen gegen sexuelle Gewalt im Raum der Kirche ergriffen. Das gilt insbesondere für den Bereich der Prävention, dank der engagierten Präventionsbeauftragten zusammen mit ihren vielen Mitstreiterinnen und Mitstreitern. Der Forschungsbericht zeigt uns aber, dass wir Bischöfe noch konsequenter und abgestimmter untereinander vorgehen müssen und dass alle Maßnahmen zur Intervention und Prävention zu kurz greifen, wenn sie nicht eingebettet sind in eine kirchliche Kultur und in Strukturen, die dazu beitragen, den Missbrauch von Macht wirksam zu verhindern. Diesen Auftrag haben wir von Jesus Christus selbst her. Schon Jesus verurteilt gegenüber seinen Jüngern scharf den Missbrauch von Macht, wenn er sagt: ‚Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen missbrauchen. Bei euch soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein.‘ Als Beauftragter der Bischofskonferenz werde ich mich dafür einsetzen, dass wir mithilfe der Ergebnisse der MHG-Studie den Weg der Bekämpfung des Missbrauchs beharrlich fortsetzen. Allein werden wir Bischöfe das nicht können. Auch das zeigt die Erfahrung der vergangenen Jahre. Wir brauchen dazu die kritisch-solidarische Hilfe anderer: der Gläubigen, der Gesellschaft, der Politik, der Wissenschaft und ganz besonders auch die Hilfe der Betroffenen“, so Ackermann.

Familienbund fordert verstärkte Präventionsarbeit

Mit Betroffenheit und Bestürzung reagiert der Familienbund der Katholiken auf die heute von der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda offiziell vorgestellten Ergebnisse einer Studie, die erstmals den Umfang von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche in der Zeit von 1946 bis 2014 in Deutschland untersucht. In den Akten der Bistümer sind danach mindestens 3.677 Kinder und Jugendliche als Opfer sexuellen Missbrauchs durch katholische Geistliche dokumentiert. 1.679 Kleriker sollen sich schuldig gemacht haben, oftmals aus „sexueller Unreife“, wie die Forscher schreiben. „Im Dickicht der kirchlichen Strukturen ist es zu sexuellem Missbrauch Minderjähriger in einem für mich unvorstellbaren Ausmaß gekommen“, sagte Familienbund-Präsident Becker anlässlich der Veröffentlichung heute in Berlin. „Machtmissbrauch und Vertrauensbruchhaben unfassbares Leid über Schutzbefohlene der Kirche und deren Familien gebracht. Das macht mich tief betroffen. Die unheilvolle Art und Weise, wie in den zurückliegenden Jahren verheimlicht und vertuscht wurde, kann nicht akzeptiert werden. Die Kirche – und damit meine ich Bischöfe, Priester, Ordensleute und Laien –muss jetzt unverbrüchlich an der Seite der Opfer stehen, ungeachtet des eigenen Ansehens! Mit Blick auf die Zukunft kann das nur heißen: Die Kirche muss weiter sämtliche Register einer umfassenden Präventionsarbeit ziehen. Kompromisse darf es dabei nicht geben!“ Wesentlichen Anteil am großen Ausmaß des sexuellen Missbrauchs habe nach Beckers Worten auch die Tabuisierung von Sexualität in der Kirche. Eine grundlegende Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs sei nur möglich, wenn sich die Kirche einer offen geführten Sexualitätsdebatte stelle. Die Zeit dafür sei reif, so Becker.

„Eine der Lehren, die wir aus den Missbrauchsfällen der Kirche mit Blick auf Familien ziehen müssen, lautet“, so der Präsident des Familienbundes Becker: „Ertüchtigen wir unsere Kinder frühzeitig, sich gegen die Gefahren sexuellen Missbrauchs zu wappnen. Erziehen wir unsere Kinder zu selbstbewussten Menschen, die wissen, dass nur sie es sind, die ein Recht an ihrem eigenen Körper haben. Sensibilisieren wir sie behutsam und ermöglichen ihnen so ein entschiedenes Nein, wenn sich Dritte ihrem Körper nähern wollen. Und stärken wir die Eltern. Wie können sie erkennen, ob ihr Kind bedrängt wurde? Und wie können sie reagieren? Bei dieser Aufgabe sind Staat und Kirche gefordert, systematisch kind- und familiengerechte Angebote zu schaffen.“

Zur heute veröffentlichen Studie sagte Landesvorsitzender Hubert Schulte in Fulda: „Angesichts des großen Dunkelfeldes, auf das die Forscher in ihrer Studie mehrfach hinweisen, müssen jetzt die Bistümer für detaillierte Aufarbeitung von unabhängiger Seite sorgen. Das Licht der Aufklärung menschlichen Unrechts darf mit der Veröffentlichung dieser Studie nicht erlöschen. Dunkelräume darf es in der Kirche nicht mehr geben, weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft. Und keine Strukturen, die sie ermöglichen und decken.“ Nötig sei nicht weniger als ein grundlegender Kultur- und Bewusstseinswandel der Kirche. „Ein Null-Toleranz-Verhalten, wie von Papst Franziskus gegenüber sexuellem Missbrauch gefordert, muss gelebt werden, in allen Gliederungen, auf allen Ebenen kirchlichen Lebens. Verdachtsmomenten muss entschieden nachgegangen und Recht konsequent angewendet werden“, sagte Schulte.

Macht- und Gewissensmissbrauch sind nach Schultes Einschätzung entscheidende Voraussetzung für den sexuellen Missbrauch in der Kirche. „Der Klerikalismus hat dazu geführt, dass Täterschaft in den kirchlichen Reihen vielfach gedeckt und der Blick auf die Opfer vermieden wurde. Die erfolgreiche Überwindung dieser Geisteshaltung wird wahrscheinlich die Zukunft der Kirche maßgeblich mitbestimmen. Nepotistische Strukturen, die menschliches Unrecht akzeptieren, dürfen in der Kirche nicht mehr möglich sein. Das Leben von Familien muss auch künftig der Mittelpunkt der Kirche sein können.“

Die Autoren der Studie zählen vor allem auch den kirchlichen Umgang mit dem Thema Sexualität zu den vorrangigen Risikofaktoren für das Entstehen von sexuellem Missbrauch. „Eine gründliche Aufarbeitung des Missbrauchs wird nur dann möglich sein, wenn die Kirche ihren Begriff von Sexualität umfassend diskutiert und neu bewertet. Dazu kann ich nur dringend raten“, sagte Schulte. „Eine Tabuisierung des Themas mit dem gleichzeitigen Anspruch einer rigiden sexualmoralischen Normierung erweist sich innerkirchlich als ein idealer Nährboden für unreife Sexualität, die sich in Missbrauch an Kindern und Jugendlichen ungezügelt Bahn bricht“, so Schulte. „Fest steht heute vor allem: Der Weg der Kirche, missbrauchtes Vertrauen zurückzugewinnen, wird lang sein. Als erste zivilgesellschaftliche Institution Deutschlands in einer umfangreichen Studie – auch wenn diese Schwächen hat – einen Beitrag zur Aufklärung geleistet zu haben, ist dazu ein erster Schritt. Weitere müssen folgen.“ +++