Silvesteransprache von Bischof Dr. Michael Gerber

Wir schauen – wieder einmal – auf ein sehr bewegtes und gefülltes Jahr zurück. Der Jahreswechsel ist Anlass, einen persönlichen Rückblick zu halten:

  • Für welche Momente und Begegnungen im vergangenen Jahr bin ich dankbar?
  • Wo sind mir neu Beziehungen und Freundschaften geschenkt worden?
  • Welche Momente waren für mich schwer und drücken auch im kommenden Jahr noch auf meine Seele?
  • Gab es Schlüsselmomente, die meine Sicht auf die Wirklichkeit dieser Welt und auf die Wirklichkeit, die ich selbst bin, verändert haben?

Für mich selbst sind es mit dem heutigen Tag genau neun Monate, dass ich hier in Fulda und von Fulda aus für das Bistum als Bischof wirken darf. Bei allen Herausforderungen, die wir als Kirche zu bewältigen haben, schaue ich sehr, sehr dankbar auf diese ersten Monate zurück. Viele Begegnungen und Momente haben mir gezeigt: Hier im Bistum Fulda sind Menschen an ganz unterschiedlichen Orten engagiert und wirksam. Sie setzen sich ein im Dienst am Nächsten, wie ich es zuletzt bei der sehr beeindruckenden Feier der Caritas am Nachmittag des Heiligen Abend erleben durfte. Ich bin dankbar, dass wir in unserem Bistum Menschen haben, die mit viel Feingefühl, Ausdauer und Kreativität sich darum mühen, Menschen heute einen Zugang Jesus Christus und zu seiner Botschaft zu ermöglichen. Veranstaltungen wie der „Tag für pastorale Innovation“, den wir Ende Oktober mit gut 200 Personen aus dem ganzen Bistum hatten, hat dies auf eindrucksvolle Weise gezeigt. Besonders dankbar bin ich all jenen, die die verschiedenen Anliegen und Initiativen im Gebet mittragen. Nicht zuletzt in der Weihnachtspost haben mir viele Menschen das Gebet für das Bistum versprochen. Ich glaube mehr denn je, dass in unserer Kirche keine Initiative Früchte trägt, die nicht vom solidarischen Gebet getragen ist.

Die Kirche und damit auch das Bistum Fulda lebt von Personen und Persönlichkeiten, die auf ihre Weise glaubwürdig das Wort Gottes leben. Viele übernehmen Aufgaben im Hintergrund. Diese werden kaum von einer größeren Öffentlichkeit registriert und sind dennoch unverzichtbar. Für sie alle dürfen wir dankbar sein.

Eine Person möchte ich jedoch heute Abend besonders nennen. In diesen Stunden geht der Dienst von Prof. Dr. Gerhard Stanke als Generalvikar in unserer Diözese zu Ende. Ich bin Ihnen, Herr Prof. Stanke, sehr dankbar, dass Sie im April nach meiner Amtseinführung bereit waren, dieses Amt nochmals für einige Monate zu übernehmen. In den vergangenen Monaten durfte ich Sie angesichts der vielfältigen Herausforderungen als umsichtigen Verwalter kennenlernen. Zugleich – und das beeindruckt mich nachhaltig – sind Sie ganz Seelsorger, den Menschen zugewandt und gerade denjenigen, denen es nicht gut geht, die benachteiligt sind, immer wieder nachgehend.

Für mich verkörpern Sie eine Form des priesterlichen Dienstes, welche gerade die Kirche unserer Tage braucht: Jemand, der bereit ist, sich in viele Fragen der Administration einzuarbeiten, der bereit ist, hier Leitungsverantwortung zu übernehmen und der auch vor schwierigen Entscheidungen nicht zurückschreckt. Zugleich sind Sie ein Priester, der ein waches Gespür hat für die Menschen, dem die Sorgen und Nöte der Menschen ehrlich zu Herzen gehen und der mit einer großen Sensibilität spürt, was an seelsorglicher Begleitung für die jeweilige Situation angemessen ist. Ich bin dankbar, dass Sie, lieber Herr Prof. Stanke, auch in Zukunft sich in den Dienst des Bistums nehmen lassen, vor allem in der Sorge um die älteren Priester hier in der Region und als deren Vertreter im Priesterrat. Gott möge Ihnen Ihr vielfältiges Wirken vergelten!

Herrn Prälat Steinert danke ich heute, dass er sich bereit erklärt hat, ab dem morgigen Tag dieses verantwortungsvolle Amt des Generalvikars zu übernehmen. Sie bringen dafür ein reichhaltiges Erfahrungswissen und weitere Qualifikationen mit.  Auf dem Hintergrund der gemeinsamen Erfahrungen der vergangenen Monate freue ich mich sehr auf eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Ihnen, Herr Prälat Steinert.

Für die Stadt, die Region und das Bistum Fulda war dieses Jahr 2019 wesentlich geprägt als Jubiläumsjahr. Im März konnten wir der 1275 Jahre gedenken, die seit der Aufrichtung des Kreuzes durch den heiligen Sturmius vergangen sind.

Wo immer Christen – wie einst Sturmius und seine Gefährten – Neuland betreten haben, haben sie ein Kreuz aufgerichtet. Das Kreuz ist das Zeichen unseres Erlösers, dessen Geburt wir an Weihnachten feiern. Wenn es darum geht, dass wir als Kirche in dieser Gesellschaft von heute und morgen mit all ihren Herausforderungen leben, dann wird dies nur dann fruchtbar werden, wo tief in uns die Überzeugung lebt: Nicht wir machen Kirche, sondern wir sind herausgefordert, uns als Kirche dem Wirken des Herrn zur Verfügung zu stellen.

Das hat nichts mit Rückzug in die Passivität zu tun, sondern ist vielmehr ein sehr aktives Geschehen. Bei den anstehenden Prozessen, ob auf Bistumsebene oder beim Synodalen Weg, wird das eine der entscheidenden Fragen sein: In welcher Haltung bin ich unterwegs? Etwa in der des „Machers“, der eine politische Mehrheit für eine bestimmte Option sucht und geschickt für das eigene Anliegen wirbt? Oder als Anwältin und Anwalt dafür, dass bei aller Notwendigkeit, sich für bestimmte Positionen einzusetzen, eines unbedingt gilt: Fruchtbar wird mein Wirken da, wo ich mich im aufrichtigen Dialog mit Anderen und gerade mit Andersdenkenden meine Frage die ist: Was könnte der Weg sein, den der Herr mit uns heute und morgen gehen will? Diese kritische Überprüfung ist eine Hilfe vor der Selbstüberforderung, die mit einer bloßen Mach-Mentalität einhergeht.

Es deutet sich an, dass wir hier auch im kommenden Jahr und im vor uns liegenden Jahrzehnt so manche Grenzerfahrung erleben werden. Jenes Kreuz des Sturmius, das sich im Bistumswappen wie im Wappen jedes Fuldaer Abtes und Bischofs findet, es verweist uns auf die österliche Paradoxie des Kreuzes, die für uns als Kirche auch im kommenden Jahrzehnt gilt: Es steht für den Glauben, dass der Herr uns gerade in Grenzerfahrungen, im Scheitern und im Zusammenbruch neues Leben schenkt, das sich jenseits des Horizontes unserer Berechnungen eröffnet.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Wo es Scheitern gibt, wo es menschliches Versagen, wo es Schuld gibt, darf dies nicht schöngeredet oder gar vertuscht werden. Hier erleben wir im Bereich der internationalen Politik derzeit einige sehr bedenkliche Tendenzen.  Zu Recht sind wir irritiert und alarmiert, wo in demokratischen Ländern Tendenzen zu beobachten sind, die Gewaltenteilung und insbesondere die Rechtsprechung in ihrer gebotenen Unabhängigkeit auszuhebeln.

Umgang mit Scheitern und Schuld? Gerade als Kirche sind wir herausgefordert, in der Frage der Aufarbeitung dessen, was Menschen durch sexuellen Missbrauch und durch andere Formen von Machtmissbrauch erlitten haben, neue und transparent nachvollziehbare Wege der Aufklärung zu gehen. Einige Schritte dazu konnten wir sowohl auf nationaler als auch auf Bistumsebene in diesem Jahr gehen, andere stehen für das kommende Jahr noch aus.

Wesentliche Maßnahmen konnten wir in Fragen der Finanzaufsicht umsetzen. Ich bin dankbar, dass mit dem morgigen Tag der Diözesanvermögensverwaltungsrat in neuer Form als ein aus fünf unabhängigen Expertinnen und Experten bestehendes Gremium seine Arbeit aufnehmen wird.

Bisweilen wird kritisiert, dass wir uns bei den Prozessen auf Bistumsebene oder auch beim Synodalen Weg zu Lasten der Frage nach der Glaubensweitergabe einseitig um strukturelle Fragen mühen. Während meiner langen Zeit in der Priesterausbildung habe ich gelernt, dass die Frage nach der Persönlichkeitsstruktur eines Menschen, also die Frage, ob und wie jemand aus einer inneren Freiheit heraus denken und handeln kann, entscheidend dafür ist, ob sein Dienst, sein Engagement für das Evangelium nicht nur von der Intention her gut gemeint ist, sondern auch tatsächlich fruchtbar werden kann.[1]

Was für den Einzelnen gilt, kann in analoger Weise auf den Organismus der Kirche insgesamt übertragen werden. Strukturen, die eine innere Klarheit, Transparenz und Freiheit ermöglichen, sind eine unverzichtbare Grundlage dafür, um heute, in einer pluralen und multioptionalen Welt angemessen über die Botschaft des Evangeliums ins Gespräch zu kommen. Ein fruchtbarer Dialog setzt eine Begegnung in Freiheit voraus.

Ich bin dankbar, dass wir hier im Bistum Fulda längst nicht nur an strukturellen Fragen arbeiten. In den vergangenen Monaten durfte ich mit einer ganzen Reihe von Menschen, Haupt- und Ehrenamtlichen, Priestern wie Laien ins Gespräch kommen, die sehr konkrete Erfahrungen haben, wie das geht, dass Menschen unserer Tage darauf aufmerksam werden, dass der Gott, von dem die Bibel spricht, auch der Gott ihres Lebens ist. Diesen Erfahrungsschatz wollen wir heben und auch an anderen Orten fruchtbar machen.  Im kommenden Jahr werden sich auf Bistumsebene einige spezielle Veranstaltungen genau diesem Anliegen widmen.

Das Symbol des Kreuzes steht aber auch für das Leid, das Menschen Tag für Tag erfahren. Möglicherweise hätte der jüngste Anschlag in Somalia mit 70 Toten und über 90 Verletzten vor einigen Jahren noch wochenlang unsere Gemüter bewegt. Heute, angesichts der vielfältigen Gewaltakte – gerade auch in diesen weihnachtlichen Tagen –, sind wir in der Gefahr, dass diese Tat und deren Folgen in einem Land wie Somalia, das für uns nicht nur geographisch sehr weit weg ist, bereits nach wenigen Stunden wieder aus dem Bewusstsein verschwunden ist. Das Kreuz ermahnt uns Christen, nicht abzustumpfen, sondern Solidarität mit den Opfern zu zeigen. Ich bin immer wieder beeindruckt, auf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kirchlicher Hilfswerke zu treffen, die sich unter dem Einsatz ihres eigenen Lebens an diesen Krisengebieten engagieren.

Das Kreuz erinnert uns aber auch an das Leid, das Menschen durch Vertreter der Kirche zugefügt wurde. Wenn wir als Kirche vergangene Taten aufarbeiten und neue transparente Strukturen der Prävention schaffen, da dürfen wir das nicht mit der Zielsetzung tun, endlich wieder im Licht der Öffentlichkeit gut dazustehen. Nein, entscheidendes Motiv muss das der Redlichkeit sein, damit den Menschen, die auf unterschiedliche Weise betroffen sind, Gerechtigkeit widerfährt und gerade so eine wesentliche Botschaft des Evangeliums zum Leuchten kommt. In diesem Sinne bin ich dankbar für eine ganze Reihe von Gesprächen, die ich inzwischen mit Opfern sexuellen Missbrauchs im Bistum Fulda führen konnte. Ich bin dankbar, dass Menschen mit mir das Gespräch gesucht haben, für die es alles andere als einfach ist, einem neuen, bislang unbekannten Gesprächspartner ihre Geschichte zu erzählen.

Manche Kritik, die wir als Kirche in diesen Monaten erfahren, dürfen wir als Stachel im Fleisch verstehen, der mahnt, mit der Erneuerung aus dem Geist des Evangeliums nicht nachzulassen. Das ist die eine Seite. Und dennoch werden wir auch dann, wenn wir vieles geregelt und bedacht haben, keine Kirche haben, die auch nur in etwa dem entspricht, was wir uns als Ideal vorstellen. Das auszuhalten, ist alles andere als einfach.

Die Botschaft der Heiligen Schrift, sowohl im Alten als auch im Neuen Testament, ist dabei eine große Herausforderung. In den Schriften Israels begegnet uns Gott als derjenige, der sein Volk ermahnt, sich zu bekehren, sich neu auf die ursprüngliche Vision auszurichten. Ähnlich ist es im Neuen Testament, das nicht mit Kritik und Ermahnungen an die Jünger Jesu spart und deren Grenzen deutlich aufzeigt. Zugleich – und darin mag für uns eine Provokation liegen – ist der Gott Israels und der Gott Jesu Christi ein Gott, der seinem Volk trotz allem und in dessen fortgesetztem Scheitern treu bleibt.

Die Botschaft der Bibel und die Erfahrung unzähliger Persönlichkeiten des Christentums zeigt auch: Gott findet trotz oder sogar mit dem Scheitern von Menschen Wege, wie seine Botschaft neu und im jeweiligen Kontext lebendig wird. Dafür steht der Weg Jesu und dafür steht sein Kreuz.

Die Weihnachtszeit ist geprägt von unzähligen Lichtern. Sie können uns daran erinnern: Durch jeden Menschen soll das Licht Gottes in diese Welt leuchten.  Der Name Jesu erzählt von Rettung. Stellen wir uns in den Dienst dieses Lichtes. Helfen wir einander, dieses Licht in uns zu entdecken

Das ist ein Auftrag an uns alle im vor uns liegenden neuen Jahr 2020 – im Jahr 1 nach dem großen Jubiläum. Mir ist dafür eine Passage aus dem Bonifatius-Musical als persönliches Bitt-Gebet wichtig geworden, das im Musical auf dem Domplatz der Figur des Bonifatius als Gebet in den Mund gelegt worden war: „Gib mir Kraft Herr, deinen Namen in jedes Herz zu schreiben, denn die Antwort auf alle Fragen, sie liegt allein in dir.“ Amen. +++ pm