Sascha Gramm kämpfte sich durch und ist Herr der Qualen – bis ihn sein Körper besiegt

Ein gehöriges Stück dieses Abenteuer

Vier Etappen hat Extremsportler Sascha Gramm hinter sich beim Sechs-Etappenlauf in Kirgisistan. Rund um den zweitgrößten Bergsee der Welt in der Region Issyk Kul. Bravourös hat er den Weg bisher hinter sich gebracht – 300 Kilometer in einem für Westeuropäer unvorstellbaren Gebiet. Mit unvorstellbaren Bedingungen. Das betrifft sowohl die Strecken als auch die bisweilen mörderischen klimatischen Bedingungen. Der spannendste Abschnitt, der folgte noch. Doch lesen Sie selbst ein gehöriges Stück dieses Abenteuers, das von sportlichen Höchstleistungen, emotionalen Momenten und wertvollen Begegnungen mit Menschen geprägt ist.

5.Tag, 83 Kilometer, Freitag, 9. Mai: Sascha Gramm wird diese Etappe später als „eigentlich unglaublich“ bezeichnen. Tags zuvor schon spürte er, dass „irgendetwas mit den Sprunggelenken nicht stimmt“. Vorsorglich legte er Tapeverbände an, Kinesio-Tapes – das sprach er mit seinen heimischen Physiotherapeuten Timo Lindemann und Benjamin Dillenburger ab. Dieser Tag präsentierte sich zweigeteilt: Einerseits war es der kirgisische Nationalfeiertag – andererseits der anstrengende Kampf gegen die Qualen, der Wettlauf mit der Uhr, nämlich im 12-Stunden-Zeitlimit zu bleiben – und er gipfelte im Happy End. Eines, das Folgen hatte.

Die Läufer trafen sich bereits eine halbe Stunde früher als gewohnt, dem besonderen Anlass des Tages geschuldet. Der Start erfolgte an einer Gedenkstätte. Einem Mahnmal, das der Gefallenen dachte. „Alle waren elegant gekleidet“, bemerkte Sascha, „man merkte, dass Welten aufeinanderprallten.“ Auf der einen Seite die schicken und den Staat repräsentierenden Soldaten – auf der anderen die Läufer. Beide Gruppierungen trafen aufeinander und begegneten sich, als der Veranstalter als Zeichen der Versöhnung zusammen mit den Läufern einen Kranz niederlegten. „Es spielte keine Rolle, wer da zusammen stand. Wer an welcher Seite war, wer wen neben sich hatte“, fiel Sascha – dem deutschen Botschafter dieser Challenge – auf. Dazu gehörte auch ein Ritual mit einer Schweigeminute, „der eigentliche Lauf spielt in dem Moment überhaupt keine Rolle“, spürte Gramm. Ein Ereignis, das bleibt.

Das war der Startschuss des Tages. Und dann kamen sie, die Momente des Sports. Gramms Sprunggelenke waren angeschwollen. Er wusste, dass ein Kampf bevorstand an diesem Tag. Ein echter Kampf. Eine permanente Verkrampfung am inneren Oberschenkel kam hinzu; er wurde sie bis zuletzt nie wieder los. Sascha Gramm nahm eine Schonhaltung ein. Die normale und volle Leistung konnte er seinem Körper nicht mehr abverlangen. Doch was er an diesem Tag noch bot, das machte ihn zum Sieger. Zeigte und zementierte seine Willenskraft. Seine Einstellung zum Sport. Es war die Bereitschaft, alles zu geben.

Sascha Gramm biss auf die Zähne, holte alles aus sich heraus – obwohl sein Körper irre wehtat. Wieder und immer wieder lief er an. Er hatte ja was vor. Er verfolgte ein Ziel. Auch wenn er wusste und sich sagte: „Meine Zeit läuft mir davon.“ Nach etwa 20 Kilometern der Strecke kontaktierte er den Veranstalter. „Könnt ihr mir helfen?“ Der meldete sich, in ein oder eineinhalb Stunden bei ihm vor Ort zu sein. Er glaubte daran, sein Ziel noch erreichen zu können. Bis sich ein neues Problem auftat. Dadurch, dass er nicht durchlaufen konnte, konnte er kein Wasser auffüllen. Dehydration.

Medizinische Unterstützung des Veranstalters traf ein. Sascha Gramm legte sich ins Auto. Er bekam Cola, Salzwasser und ein Mittel verabreicht, nach dem sich der Krampf zeitnah lösen sollte. „So leicht geb‘ ich nicht auf“, sagte sich Sascha. Wenn nicht sonst, dann stellte sich hier die Frage: Wie leidensfähig kann man, kann der Mensch sein? Der Hainzeller verabschiedete sich. Und machte weiter. Es ging wieder von vorn los. Immer wieder lief er an. Da begleitete ihn ein weiterer Umstand, besser gesagt: Er kündigte sich an und kam auf ihn zu. Ein Unwetter zog auf in der kirgisischen Bergwelt, in der es drei 7.000er gab. Und er hatte immer wieder die Uhr im Kopf. „Ich bin immer weitergelaufen“, schildert Gramm das Szenario. Aufopferungsvolle Volunteers an der Strecke halfen ihm. Der GPS-Tracker wies Weg und Zeit. „Sascha, du hast noch vier Stunden“.

Noch 15 Kilometer. Und zweieinhalb Stunden. Der Weg führte permanent nach oben. Dann noch sechs Kilometer. Ein letzter Berg. Der führte steil nach oben. Der Veranstalter wusste ja um die Situation, er wollte Sascha unterstützen und supporten. „Du hast noch neun Minuten.“ Dann war die 12-Stunden-Grenze erreicht. „Ich habe nie aufgehört, noch dran zu glauben“, gibt Sascha wieder. Bis sich seine Gefühle im Happy End auflösten. Und er im Glück badete. Alles musste raus. Ihn packte „so ein emotionaler Schrei. Da fallen Lasten von deinen Schultern.“ Sascha Gramm hatte das Ziel in 11 Stunden und 54 Minuten erreicht. Sechs Minuten vor der Zeit. Unglaublich. Er hatte einen der größten Siege seines Lebens gefeiert. Ein außergewöhnlicher Moment.

Gegen halb Zehn am Abend war er im Hotel. Er wartete auf den Arzt. Hatte noch nichts gegessen. Sascha wollte sich duschen. Das ging nicht. Nur seine Füße waschen. Er kam nicht dran und erreichte sie nicht. Der Kampf hatte Spuren hinterlassen an seinem Körper. Als der Arzt gekommen war und Sascha dessen Blick vernahm, dachte er sich: „Du brauchst nichts zu sagen. Ich weiß, was das bedeutet.“ Er bekam ein letztes Mittel. Doch er wusste: Es ging nicht weiter. Und er realisierte auch: „Das war der Preis, den ich zahlen musste, um die fünfte Etappe zu beenden.“ Mehr noch: „Die Entscheidung, das Rennen an dieser Stelle nicht weiterführen zu können, habe nicht ich getroffen. Sondern mein Körper hat es getan.“ Sascha Gramm spürte und wusste für sich: „Die mentale Verfassung, die Motivation und die Bereitschaft zur Leidensfähigkeit waren noch da.“ Sascha Gramm war ein Sieger. Gewiss einer des Herzens. Aber vor allem über sich selbst. Er hatte alles gegeben, was in ihm steckt – und Grenzen akzeptiert. Ein Leitbild für viele. Vor allem jüngere Sportler.

Bewusst entschied er sich, mit an den Start der Schlussetappe zu fahren. Er spürte, dass ihm die Tränen runterliefen, dass er jetzt nur zusehen durfte, dass es wehtut. „Aber das gehört auch dazu.“ Und diese Haltung und Einstellung spricht für ihn. „Ich habe 380 Kilometer – also fast zehn Marathons – gelaufen. Es gibt überhaupt keinen Grund, mich zu schämen. Man muss halt auf den Zustand seines Körpers hören.“ Dieser Grundsatz kommt nicht nur vom Sportler. Auch und nicht zuletzt der Mensch meldet sich.

Ehe Sascha Gramm abschließend noch etwas vorausblickt. „Die ganz langen Rennen werde ich nicht mehr machen. Alles über 250 Kilometer gehört der Vergangenheit an. Die ganz große Motivation hast du dann nicht mehr. Die kannst du nicht mehr abrufen. Andere Dinge machen auch Spaß“, weiß der Familienvater zweier Töchter. Zu seinem künftigen Programm könnten auch Vorträge bei Unternehmen gehören. Etwa, was er im Mai 2025 auf seiner Abenteuerreise nach und in Kirgisistan erfahren, gelernt und mitgenommen hat. Am Montag, seinem 46. Geburtstag, ist er Gast des „hr-Heimspiels“, im Juni schlägt er bei „hallo hessen“ auf. Auch ein Charity-Lauf von Wiesbaden nach Köln steht an. Jetzt bedarf es ein paar Wochen der Regeneration und Körperpflege – um wieder fit zu werden. Sascha Gramm spürt Dankbarkeit. +++ rl

Den ersten Teil finden Sie hier: Sascha Gramm setzt in Kirgisistan den emotionalen Schrei


Popup-Fenster

1 Kommentar

  1. Ein großartiger Bericht – vielen Dank dafür! Ein echtes Abenteuer, das sportliche Spitzenleistungen, emotionale Höhepunkte und wertvolle Begegnungen wunderbar einfängt. Erstklassig geschrieben und absolut lesenswert.

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*