Lockerungsdiskussionsorgien?

Ein Leserbrief von Andreas Müller

Jede einzelne Lockerung verstärkt die Vehemenz, mit der nach weiteren verlangt wird. Menschlich ist das verständlich. Das Wegbrechen der Einnahmen stellt viele vor existentielle Fragen. Ich verstehe den Wunsch vieler Eltern nach offenen Schulen, erlebe ich doch selbst, wenn auch sehr vermindert mit erwachsenen Kindern in der Ausbildung, dass die Kombination von Homeoffice und Homeschooling – so schön es mit dem eigenen Kind ist – an den Kräften zehrt. Wie muss es da Alleinerziehenden ergehen? Doch das, was uns Lindner, Laschet und Co. als Exitstrategie verkaufen, führt nicht raus aus der Coronakrise, sondern rein in eine zweite Infektionswelle. Dies birgt große Gefahren für Gesundheit wie Wirtschaft. Hinzu kommt, nach meinem Empfinden, dass allein die ständige Debatte über Lockerungen bei vielen zu dem Gefühl „Wir sind über den Berg“ führt. So brechen nach und nach im Alltag alle Dämme.

Der Kurs der Bundesländer ist nicht klar, geschweige denn gesellschaftlich diskutiert und gar bundeseinheitlich. Setzt man auf abgebremste Durchseuchung der Bevölkerung oder auf die Nachverfolgung der Fälle, das sogenannte Containment? Das Eindämmen der Infektionen mit vielen Tests und Nachverfolgen und Isolieren der Fälle, wäre der Weg, den ich bevorzugen würde. Es wären mehr Lockerungen möglich und auch der Schaden für die Wirtschaft, wäre wesentlich geringer als ein langsames Fahren mit angezogener Handbremse in einem Sportwagen, der weder auf die Bremse noch auf Gas geben direkt reagiert und von daher schwer beherrschbar ist. Aber die Wirtschaft? Glauben wir wirklich, die Wirtschaft würde wieder florieren, wenn die Infektionszahlen explodieren?

Der Zickzackkurs ist ökonomischer Irrsinn. Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) argumentiert, dass die (langfristigen) Kosten einer zu frühen Lockerung viel höher ausfallen werden als bei einer nachhaltigen Lockerung. Bei solch einem Zick-Zack-Szenario würde schließlich die Summe der Umsatzausfälle und Betriebsschließungen besonders hoch ausfallen. Das Setzen auf Durchseuchung ist also ökonomisch fragwürdig und hat zudem menschlich einen hohen Preis: viele Tote und womöglich schwere Folgeschäden bei Genesenden. Heißt das nun, dass wir im Lockdown verharren, bis der Impfstoff da ist? Nein; Im Gegenteil. Es würde mehr Lockerung, mehr Freiheit und mehr Wirtschaft bedeuten. Es ist auf jeden Fall wirtschaftlich vernünftiger als der Kurs der Lockerungslobby.

Dieses Land muss sich eine Stop-the-virus-Politik leisten, um eine langandauernde Kombination aus verstetigter Pandemie und ökonomischer Dauerkrise zu vermeiden. Nun fahren wir halt erstmal mit relativer hoher Geschwindigkeit, setzten auf eine politische Notbremse, wenn es doch mal zu schnell gehen sollte. Aber es ist nicht klar, ob das tatsächlich funktioniert. Der Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes e.V. (BVÖGD) hat die in den Lockerungsplänen von Bund und Ländern vereinbarte Infektionsobergrenze mit mehr als 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern als viel zu hoch kritisiert.

Ich glaube, dass wir leider zu ungeduldig waren. Bei der aktuellen Reproduktionszahl um die 0,6 – 0,7 hätte es noch ein, zwei vielleicht drei Wochen gebraucht, um die Anzahl der Neuinfektionen wirklich nachverfolgbar zu machen. Die Forscher des Helmholtz-Instituts haben dafür eine Zahl von um die 300 genannt. Die Zeit wäre notwendig gewesen, um die dringend notwendigen Vorbereitungen zu treffen, die jetzt überall fehlen. Jetzt können wir nur an die Vernunft appellieren. Die haben ganz viele Mitbürgerinnen und Mitbürger, aber leider gibt es eine kleine Minderheit, denen die Gesellschaft völlig egal ist und die nur ihre eigene Freiheit betrachten und denen es dabei egal ist, dass sie mit ihrem Verhalten anderen einen Schaden zufügen. +++