Epidemiologe verlangt Strategiewechsel im Kampf gegen Coronavirus

Medizinethikerin fordert Kriterien zur Auswahl von Coronapatienten

Helmholtz-Chefepidemiologe Gérard Krause hat angesichts der hochschnellenden Fallzahlen einen Strategiewechsel im Kampf gegen die Coronavirus-Pandemie gefordert. Es werde nicht mehr rechtzeitig gelingen, ausreichend Intensivkapazitäten zu schaffen: „Wir müssen uns umso dringlicher darauf konzentrieren, die Zahl der schweren Erkrankungen so gering wie möglich zu halten“, sagte der Leiter der Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) der „Neuen Osnabrücker Zeitung“. Wenn Ressourcen gebunden würden, um alles auf Eindämmung zu setzen, und die dann fehlten, um die Behandlung der Alten und Vorerkrankten zu optimieren, wäre das „kontraproduktiv“.

Das dürfe nicht passieren. Die Einschätzung des Robert-Koch-Institutes, es könnten sich binnen drei Monaten zehn Millionen Menschen anstecken, „ist realistisch“, sagte der HZI-Chefepidemiologe. Auf eine Zahl von zwei Millionen schwer erkrankter Covid-19-Patienten „müssen wir uns einstel  len“. Daran änderten auch Schul- und Geschäftsschließungen nichts. „Wir werden nicht mehr verhindern können, dass sich das Virus in der Gesellschaft verbreitet. Es ist zu erwarten, dass der Bremseffekt nicht von Dauer sein wird. Darauf weisen etwa Studien aus London hin. Womöglich gelingt es nur, den Gipfel der ersten Welle um wenige Wochen zu verzögern.“ Es werde aber nicht gelingen, in wenigen Wochen ausreichend Intensiv-Pflegekräfte auszubilden, sagte Krause. „Der Fall kann daher eintreten, dass wir nicht mehr jeden optimal behandeln werden können. Das werden wir akzeptieren müssen.“ Entscheidend sei deswegen, „dass wir uns auf die Versorgung der rund 20 Prozent Schwerbetroffenen fokussieren“, sagte der Forscher und forderte: „Wir brauchen einen VIP-Zugang für Vorerkrankte und Alte. Sie müssen optimal vor Infektionen bewahrt werden, und für sie muss bei Diagnostik, Abklärung, Überwachung und medizinischer Versorgung absoluter Vorrang gelten. Hier können wir noch mehr tun.“ Eindringlich warnte der Experte vor der Verhängung einer Ausgangssperre. „Massive Eingriffe in den gesellschaftlichen Ablauf – etwa ein Ausgehverbot – können auch die Gesundheitsversorgung gravierend beeinträchtigen“, sagte Krause. „Die Produktion medizinischer Güter und Medikamente muss gewährleistet bleiben, etwa die Produktion von Insulin. Gleiches gilt für die Versorgung mit Lebensmitteln.“ Und ein Einsatz staatlicher Gewalt, um eine Ausgangssperre umzusetzen, „würde Probleme an anderen Stellen schaffen, die wir nicht gebrauchen können“. Bei der Suche nach einem Covid-19-Impfstoff erwartet der Epidemiologe keinen baldigen Durchbruch. „Die Erfahrung lehrt: Die Erwartung, ein Impf- oder Wirkstoff sei bald zur Hand, und die Möglichkeiten werden zu Beginn von Epidemien in der Regel dramatisch überschätzt. Wir müssen Strategien entwickeln, die erst einmal ohne einen Impfstoff auskommen.“

EU-Grenzschutzagentur übt scharfe Kritik an Corona-Maßnahmen

Der Chef der EU-Grenzschutzagentur Frontex, Fabrice Leggeri, hat mit Blick auf die Coronakrise scharfe Kritik an den unterschiedlichen nationalen Maßnahmen in der europäischen Gesundheitspolitik geübt. „Wir wollen herausfinden, wie Grenzkontrollen in Zeiten des Coronavirus am besten funktionieren. Die EU ist in dieser Frage unzureichend ausgestattet“, sagte Leggeri den Zeitungen der Funke-Mediengruppe und der „Ouest-France“. Man brauche mehr europäische Koordination und Standards, wenn es um Bereiche gehe, wo Grenzkontrollen und Gesundheitsinspektion sich zusammenfügen sollten. „Viele nationale Behörden haben uns genau darum gebeten.“ Als Beispiel für die auseinanderdriftenden Regelungen in der EU nannte der Frontex-Chef das Thema Quarantäne. „So müssen in Polen alle, die einreisen wollen, zwei Wochen in Quarantäne. In anderen EU-Mitgliedstaaten ist das nicht so.“ Auch bei der Benutzung von Atemschutzmasken gebe es einen „Flickentep  pich von Regelungen“, kritisierte Leggeri. „So wurden in den Erstaufnahmezentren für Flüchtlinge – den Hotspots – an den italienischen Außengrenzen bereits vor mehr als zwei Wochen sehr strenge Maßnahmen ergriffen: Grenzschutzbeamte sind dort verpflichtet, Atemschutzmasken zu tragen. In Griechenland kommt das erst jetzt.“

Medizinethikerin fordert Kriterien zur Auswahl von Coronapatienten

Die Medizinethikerin Alena Buyx hält es für möglich, dass schon bald Ärzte in deutschen Krankenhäusern Corona-Patienten nach ihrer Überlebenschance einteilen müssen. Diese sogenannte Triage sei möglich, sagte die Wissenschaftlerin der Technische Universität München der „taz“. Und zwar wenn die Zahl schwer erkrankter, beatmungsbedürftiger Covid-19-Patienten in Deutschland rasant steigen und die personellen wie materiellen Ressourcen in den Kliniken nicht mehr zur Versorgung aller Patienten ausreichen würden. „Es ist absolut grässlich, eine Entscheidung treffen zu müssen im Wissen, dass ich nur den einen retten kann und dass der andere deswegen stirbt. In der Krise müssen wir eine Triagierung vorschalten“, sagte Buyx der „taz“. Das Infektionsschutzgesetz lasse offen, nach welchen Kriterien Ärzte ihre Patienten im Fall einer Pandemie priorisieren sollen. Diese Lücke müsse dringend geschlossen werden, forderte Buyx. „Wir brauchen eine Ha  ndreichung für Ärzte mit den Kriterien zur Triage.“ Buyx, die auch Mitglied des Deutschen Ethikrats ist, sprach sich für die Gründung einer Expertenkommission aus Notfall-, Katastrophen- und Intensivmedizinern, Pandemieexperten, Ethikern, juristische Experten und solchen aus dem leitenden Krankenhausmanagement aus, um Triage-Kriterien zu entwickeln. „Ich plädiere für eine interdisziplinäre Adhoc-Kommission“, sagte sie der „taz“. Bevorzugt behandelt werden sollten erstens Patienten, die zwingend intensivmedizinische Versorgung bräuchten. Zweitens, so die Medizinethik-Professorin, müsse beurteilt werden, „wer innerhalb der Gruppe derjenigen, die Beatmung benötigen, die beste Prognose hat, gesund zu werden“. Und drittens sei zu diskutieren, ob „systemerhaltendes Personal im Krankheitsfall zu bevorzugen ist, also Menschen, die wichtig sind für die Infrastruktur eines Landes, klinische Gesundheitsberufe etwa oder jene mit zentraler Funktion in der Energieversorgung“. Abstrakte Altersgren  zen, wie sie in Italien diskutiert wurden, hielt sie hingegen „für problematisch“. Buyx warnte davor, die Triage-Entscheidung den einzelnen Ärzten zu überlassen. „Das wäre eine Zumutung und eine Überforderung, auch psychologisch“, sagte sie. Niemand in Deutschland habe konkrete Erfahrungen mit Zuständen absoluter medizinischer Knappheit aufgrund einer Pandemie, und dies gelte auch für Beschäftigte im Gesundheitsbereich, betonte Buyx. „Ein Szenario, in dem wirklich alle Kapazitäten ausgeschöpft wären – Personal, Beatmungsgeräte, Betten -, darauf sind Ärztinnen und Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger in Deutschland nicht vorbereitet.“ +++

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