Torsten Diedrich referierte über “Waffen gegen das Volk – Der 17. Juni 1953 in der DDR“

Ausstellung „70 Jahre. Der Volksaufstand in der DDR 1953“noch bis 7. Juli im Bonifatiushaus zu sehen

Bei der Eröffnung der Ausstellung "70 Jahre. Der Volksaufstand in der DDR 1953" in der Katholischen Akademie des Bistums Fulda (von links): GSP-Sektionsleiter Michael Trost, Referent Dr.. Torsten Diedrich sowie Akademiedirektor Gunter Geiger. Foto: Gisbert Hluchnik.

Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 in der damaligen DDR mit nachweislich 55 Toten hätte vielleicht die politische Wende im Land bringen können. Kampfbereite sowjetische Panzer, Soldaten der Roten Armee und DDR-Einsatzkräfte verhinderten das Ende des sozialistischen Unrechtsregimes. Auch das weitgehend unkoordinierte Vorgehen der Protestierenden, ausgelöst durch die Spontaneität der Ereignisse sowie fehlende Strukturen und klare politische Zielvorstellungen innerhalb der Bewegung sorgten für das Scheitern des Aufstands. Letztlich mangelte es der Moskauer Besatzungsmacht – anders als 1989 – an der Bereitschaft, die DDR aus ihrem politischen Zwangsgefüge ausscheren zu lassen.

Vor diesem Hintergrund dürfte der Vortrag des Berliner Historikers Dr. Torsten Diedrich „Waffen gegen das Volk – Der 17. Juni 1953 in der DDR“ in mancherlei Hinsicht ein neues Licht auf die Geschehnisse vor 70 Jahren geworfen haben. Nach seiner historischen Betrachtung eröffneten die Gastgeber des Akademieabends, Gunter Geiger, Direktor der Katholischen Akademie des Bistums Fulda sowie Michael Trost, Leiter der Fuldaer Sektion der Gesellschaft für Sicherheitspolitik (GSP) gemeinsam mit Diedrich die Ausstellung „70 Jahre. Der Volksaufstand in der DDR 1953“.  Für dieses Thema gebe es „keinen geeigneteren Referenten“, lobte Trost den Historiker. Für ihn wie auch Geiger ist es wichtig, in diesem Jahr an die Ereignisse vor 70 Jahren zu erinnern, die als „Sturm im Wasserglas“ endeten, letztlich jedoch als Basis zur Wende von 1989 geführt hätten.

Eine Million Unzufriedene

Vor siebzig Jahren – am 17. Juni 1953 – verkündete der Arbeiter Max Latt – von den Görlitzern liebevoll „der alte Latt“ genannt, auf einer Markttribüne: „Görlitzer, es lebe die Juni-Revolution von 1953.“ Latt habe damit die Hoffnung aller Versammelten ausgedrückt, nunmehr „auf dem Weg zu einem demokratischen, friedliebenden Deutschland zu sein“, so Diedrich. An jenem Tag artikulierten fast eine Million Menschen in der DDR spontan ihre Unzufriedenheit mit dem Sozialismus. Sie streikten für Demokratie und Freiheit und riskierten dafür ihr Leben, die persönliche Freiheit und ihr berufliches Fortkommen. Die Volkserhebung wurde mit Waffengewalt erstickt.

Erzwungene Verstaatlichung

Der Volksprotest erwuchs aus einem ganzen Bündel politischer, wirtschaftlicher und sozialer Unzufriedenheit. Seit 1948 hatte die SED mit Hilfe der Besatzungsmacht in der Sowjetisch Besetzten Zone (SBZ) alle basisdemokratischen Ansätze der „antifaschistisch-demokratischen Umwälzung“ zugunsten ihrer diktatorischen Alleinherrschaft beseitigt. Mit erzwungenen Verstaatlichungsmaßnahmen in der Industrie gelang es der SED bis zum Frühjahr 1953 den privatwirtschaftlichen Bereich der Industrie physisch um 10 % zu schrumpfen. Die Liquidierung der mittelständischen Produzenten führten zu Engpässen in der Zulieferindustrie und ließ die Konsumgütererzeugung stark sinken. Gleichzeitig habe man die Kollektivierung der Landwirtschaft in rund 2 000 Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) ehemals selbständiger Bauern betrieben. Mitte 1953 lagen etwa 750 000 Hektar Landwirtschaftsfläche brach. Als Folge sank die landwirtschaftliche Produktion. In den Geschäften avancierten Butter, Zucker, Fleisch, Obst und Gemüse zu absoluter Mangelware, die Preise stiegen erheblich. Die SED begleitete ihre Repressivmaßnahmen zudem durch die DDR-Justiz. Sie war seit 1952 aufgefordert, gegen den „inneren Gegner“, „Wirtschaftsverbrecher“, „Saboteure“ und „Agenten“ vorzugehen. Die Zahl der Häftlinge wuchs von 30.092 in 150 Haftanstalten im Juli 1952 auf 61.377 Häftlinge in 200 Haftanstalten im Mai 1953. Gleichzeitig setzte seit 1952 eine Militarisierung bislang unbekannten Ausmaßes ein. Diedrich: „Mit der Kasernierten Volkspolizei wurde eine über 100 000 Mann starke Armee aus dem Boden gestampft und eine eigene Rüstungsindustrie aufgebaut.“ Die Grenze zur Bundesrepublik wurde hermetisch abgeriegelt. Als Fluchtweg blieb nur noch die geteilte Stadt Berlin. Die gewollte Teilung auf Dauer wurde für jeden offensichtlich. Die DDR-Bürger verloren die Hoffnung auf eine baldige Wiedervereinigung. Die SED versuchte die Wirtschaftsprobleme durch Sparmaßnahmen auf der einen, durch eine erzwungene Erhöhung der Produktivität auf der anderen Seite auszugleichen. Leidtragende war in beiden Fällen die Bevölkerung. Viele verließen die DDR. Die Flüchtlingszahl stieg von etwa 182 000 im Jahr 1952 auf 426 000 allein im ersten Halbjahr 1953.

Demokratie und Wiedervereinigung

Wenngleich die Juni-Unruhen durch soziale Anlässe – die tiefgehende Versorgungskrise, Verschlechterungen im sozialen Bereich sowie die oktroyierten Normerhöhungen – ausgelöst worden seien, so habe im Hintergrund eine latente politische Unzufriedenheit mit der Politik der SED vorgeherrscht. Der Massenprotest am 17. Juni 1953 war nach Ansicht Diedrichs „getragen vom Willen der Bevölkerung nach basisdemokratisch Rechten – vom Ruf nach Mitbestimmung, Meinungsfreiheit, Demokratie und Wiedervereinigung.“

Kein Aufstand ohne den RIAS

Den Funken zur Erhebung entfachten am 16. Juni 1953 die Bauarbeiter der Stalinallee. Sie streikten gegen die Normerhöhung. Schnell entwickelte sich ein Protestzug durch das Zentrum von Ostberlin, der auf mehrere tausend Teilnehmer anschwoll. Ein wesentlicher Mittler der Nachrichten aus Berlin war der Radiosender RIAS. Für Diedrich ist es eine Tatsache: „Ohne den RIAS hätte der Volksaufstand am 17. Juni nicht so weitverbreitet stattgefunden.“ Informiert über die Berliner Ereignisse durch den RIAS, aber auch Mund-zu-Mund-Propaganda, erhoben sich am 17. Juni 1953 fast überall Arbeiter und bekundeten mit Streiks und auf Straßen und Plätzen ihre Solidarität mit den Berliner Bauarbeitern. Neben der DDR-Hauptstadt waren die Protestbewegungen in den Industriegebieten um Magdeburg, Erfurt, Gera und Leipzig sowie im Raum Niesky, Görlitz, Dresden am intensivsten. Sie erlangte regional unterschiedliche Qualitäten. Das reichte von spontanen friedlichen Protestkundgebungen in etwa 700 Orten der DDR bis hin zu politischen Umsturzversuchen in Halle, Bitterfeld und Görlitz. Die Staats- und SED-Führung war mit den ihr eigentlich reichlich zur Verfügung stehenden Mitteln der Staatsgewalt 1953 nicht in der Lage, die Volkserhebung aus eigener Kraft zu unterdrücken. So wurden sowjetische Garde-Truppen mit mehr als 600 Panzern zusammengezogen und die Volkspolizei alarmiert und verstärkt. In der Einsatzvorbereitung für Berlin in der Nacht zum 17. Juni war nicht nur das sowjetische Eingreifen als letztes Mittel festgelegt worden, der Einsatz sollte möglichst ohne Blutvergießen laufen.

Tote und Verwundete

Tatsächlich fuhren sowjetische Panzer und SPW (= Schützenpanzerwagen) im Schritttempo durch die Demonstrierenden. Bordkanonen wurden nicht eingesetzt. Allerdings wies Moskau angesichts der Massenproteste am 17. Juni zur Abschreckung den Schusswaffeneinsatz und die Anwendung des Standrechtes gegen „Rädelsführer“ (12) an. In Ostberlin kamen 12 durch Schussverletzungen ums Leben – 6 der Toten waren Westberliner und 6 der Todesschüsse kamen aus Polizeiwaffen. Die Krankenhäuser zählten Hunderte Verwundete – Ost- wie Westberliner.

„Gescheiterte Revolution“

Was war das Wesen der Erhebung am 17. Juni? Die meisten Historiker sehen im 17. Juni 1953 einen Volksaufstand, manche sprechen sogar von einer „gescheiterten Revolution“. Der spontane Ausbruch des Massenprotestes überraschte die Machthaber in der DDR völlig. So war man in den DDR-Regionen weder vorbereitet noch in der Lage, adäquat auf die Volksempörung zu reagieren. Am Mittag des 17. Juni hatte der DDR-Sicherheitsapparat seine Handlungsfähigkeit eingebüßt. Viele Städte befanden sich in Händen der Protestierenden. Die SED-Herrschaft wankte. Aber die Bevölkerung sei nicht auf die Übernahme der Macht im Staate fixiert gewesen. Diedrich wörtlich: „Sie konnte es nicht, denn das Hauptmerkmal des Massenprotestes war seine Spontaneität.“ Es hatte sich vorab keine Opposition gegen den SED-Staat formiert, die klare politische Ziele formulieren und den Massenprotest koordinieren konnte. Die Friedfertigkeit des politischen Protestes war trotz vieler Gewaltaktionen dem Volksaufstand ebenso eigen wie der Revolution des Jahres 1989. Anders als in Aufständen und Revolutionen zuvor, anders auch als in Ungarn, Polen und der ČSSR danach, hatte es vor dem 17. Juni keine geistige Auseinandersetzung mit der Politik der SED gegeben. Die Blockparteien, oppositionelle Gruppierungen bzw. die Kirche wurden von den Ereignissen vollkommen überrascht. Bei den Ereignissen im Juni 1953 in der DDR fehlte so die führende Kraft. Der Volkserhebung 1953 fehlte im Gegensatz zur friedlichen Revolution 1989 die Zeit, aus der Massenbewegung heraus einen zielgerichteten und geführten Staatsstreich zu konstituieren. Damit blieb der Volkserhebung das eigentliche Ziel versagt – die Veränderung der politischen Verhältnisse in der DDR. Deshalb scheiterte der erste Volksaufstand gegen den Stalinismus.  Was waren die Folgen des Aufstandes: Zuckerbrot und Peitsche! Die DDR entwickelte sich zum Überwachungsstaat. Zudem galt ein Hauptaugenmerk der Ausschaltung oppositioneller Strömungen. Etwa 14 000 Menschen wurden nach dem Volksaufstand verhaftet, etwa 1 800 Menschen gerichtlich verurteilt. Bis Anfang 1954 sprach die DDR-Justiz 2 Todesurteile, 3 lebenslange sowie 1 482 Haftstrafen bis zu 15 Jahren Zuchthaus aus. Die Erfahrung des gescheiterten Volksaufstandes und die politische Repression ließen über lange Zeit oppositionelle Strömungen kaum mehr aufkommen.

Systemauseinandersetzung

Der Volksaufstand gehört unzweifelhaft in die demokratischen Traditionen der deutschen Arbeiterbewegungen ebenso wie in die Reihe von antidiktatorischen und antitotalitären Erhebungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Der 17. Juni, so urteilt Diedrich, stelle einen „Markstein in der internationalen Systemauseinandersetzung zwischen Demokratie und Diktatur in Europa dar.“ Denn der Volksaufstand war die erste Erhebung gegen das stalinistische Gesellschaftssystem im Ostblock. Die Ausstellung „70 Jahre. Der Volksaufstand in der DDR 1953“ ist noch bis 7. Juli Montag bis Samstag (9 – 18 Uhr) im Bonifatiushaus zu sehen. +++ mb