Diesen Tag wird Sascha Gramm nicht vergessen. Niemals. Er spürt den Geruch dieser Momente. Er atmet sie. Saugt sie auf. Klar hat er sich vorbereitet wie ein Berserker. Es ist die vorletzte Station des 6-Etappen-Laufes im Mai dieses Jahres in Kirgisistan. Dieser Abschnitt ist sein Highlight. Trotz körperlicher Probleme schafft er die Etappe. Bewältigt sie. Arbeitet sich durch. „Den ganzen Tag habe ich gegen Widerstände gekämpft“, erinnert er sich. Seine Augen leuchten noch immer, wenn er davon erzählt. So, als sei es gestern gewesen. „Ich war zwischenzeitlich eineinhalb Stunden hinter der Time-Line zurück. Und irgendwie hab‘ ich die aufgeholt.“
Stolz bricht sich noch heute Bahn. Stolz auf das Geleistete. Stolz auf den Charakter, den er als Athlet hat, den er hier zwangsläufig durchlebt und der auf eine harte Probe gestellt wird. Stolz, die öffentliche Wahrnehmung vieler ad absurdum geführt zu haben. Aber er setzt sich ja eigene Grenzen. Grenzen, die er durchbricht. Erfahrungen im Grenzbereich. In einer anderen Welt. Unter völlig anderen Bedingungen. Für viele hierzulande unvorstellbaren Bedingungen. Der Preis, den er zahlen muss, ist teuer. Verdammt teuer: Sascha Gramm kann zur letzten Etappe in Kirgistan nicht mehr antreten. So bitter das war und noch immer ist: Es ist Sport. Es sind Grenzen, die ihm gesetzt werden.
Doch es spricht für ihn, dass er das Bittere relativ schnell einordnet und zum Positiven dreht. „Ich hatte mir ja nichts vorzuwerfen“, sagt er heute. Auch das klingt wie damals. In seiner Vorbereitung lief er bisweilen zweimal am Tag einen Marathon. „Mein Körper hat mir an diesem Tag in Kirgistan gezeigt: Hier ist die Grenze.“ Er hat es nicht zugelassen, weiter in Grenzbereiche vorzustoßen. „Dafür bin ich auch dankbar. Das gehört auch dazu.“ Es ist kein Rückschlag. Es ist alles andere als das. Oder wie es viele in ihrer Wahrnehmung auslegen mögen. Sascha Gramm ist ein Vorzeige-Sportler. So, als hätte das die osthessische Region noch nicht ausreichend erkannt.
Sascha Gramm freut sich, bei diesem Rennen überhaupt dabei gewesen zu sein. Beim längsten Etappenlauf der Welt. Sechs Abschnitte mit insgesamt 460 Kilometern. Mit überwiegend russischen Sportlern und Organisatoren zusammen zu sein, die eine andere Sprache sprechen. Die sich anders unterhalten. Die anders kommunizieren. Schon an Tag zwei wird er in die Familie der Sportler in der anderen Welt aufgenommen. Er fühlt sich als einer von ihnen. Er ist Botschafter. Ein Botschafter des Sports. Ein Botschafter des Mensch-Seins. Er trägt diese Haltung in die Welt. In eine andere Welt.
Und Sascha nimmt noch viel Positives mit aus dem Jahr 2025. „Alles, was das Leben ausmacht“, sagt er, „ganz viele positive Eindrücke“. Etwa den Vorbereitungslauf für das Abenteuer Kirgisistan, den Lakeland in der Schweiz Anfang April. Über 250 Kilometer ging es da, an drei Seen vorbei. Oder nach seiner Rückkehr aus Kirgisistan: Drei Wochen nach diesem Erlebnis für Körper, Charakter, Herz und Seele nahm der den Spendenlauf ins Bergische Land in Angriff. Sascha war das Gesicht dieses Laufes, an drei Tagen führte die Tour von Wiesbaden aus nach Odenthal. Er führte das Feld alleine an – durch den Taunus und Westerwald mit Selbst-Navigation. Seit neun Jahren ist er Botschafter der „Mutigen Kinder“ – für die diese Good-Will-Tourt stattfand. Das freudige Resultat: 85.000 Euro kamen zusammen für die Kinder.
Der negative Moment, den Sascha Gramm in 2025 begleitete in seinem Leben: ein Bandscheibenvorfall, der quälend war und sich hinzog. Verdammt lang. Durchhaltevermögen, Mut, Bewusstsein und Charakterstärke waren gefragt. Doch der Hainzeller Extremsportler zapfte diese Merkmale an. Sportler und Mensch setzten sich durch. Ein Vierteljahr lang, von Juli bis Oktober, war er dazu verdonnert, die Füße stillzuhalten. Gar kein Sport. Für einen, der den Sport im Herzen trägt, keine leichte Phase. Alles andere als das. Doch auch hier gibt Sascha der Geschichte einen expliziten Wert. „Der Sport durfte und darf nicht dafür herhalten, dass es seinetwegen dazu gekommen wäre. Im Gegenteil: Er hat mir geholfen, mit der Situation zurechtzukommen.“ Sport als Schule des Lebens. Es sind nicht die vorderen Platzierungen oder die auf dem Podium – es sind diese Werte, die seine Bedeutung ausmachen.
Sascha Gramm wäre beinahe nicht er selbst, wenn kein neues Kapitel in 2025 hinzugekommen wäre. Es heißt Handball – und der Hainzeller ist mit Beginn dieser Saison im Trainerstab des Frauen-Drittligisten Bad Wildungen Vipers, die in der Staffel Mitte an den Start gehen. Als Co-Trainer und Coach für Lauftechniken nimmt er einen festen und bestimmenden Platz ein, auch als Motivations-Beschleuniger ist er gefragt. Sascha erhielt die Anfrage, als Stefan Obst – ein Handballtrainer, der die Saison in Bad Wildungen begann, heute aber aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr dort im Amt ist -, anlässlich eines Camps wieder einmal in Großenlüder zu Gast war. Beide – Obst und Gramm – lernten sich schnell kennen und schätzen. Bis ihn Obst an sprach, ob er nicht nach Bad Wildungen mitkommen wolle.
Derzeit ist Winterpause in Bad Wildungen. Am 28. Dezember geht‘s weiter. Das Team trifft sich dann zum Trainingsauftakt und der Vorbereitung auf die Rückrunde. „Ich kann es kaum erwarten, bis es losgeht“, zapft Sascha auch hier seine Leidenschaft und sein Herz für den Sport an. Die beiden Ersten der Staffeln Nord, Süd und Mitte qualifizieren sich für die Aufstiegsrunde – und Bad Wildungen, das für diese Runde quasi eine komplett neue Mannschaft mit Spielerinnen aus diversen Nationen aufbauen musste – liegt aussichtsreich im Rennen – mit Tuchfühlung zu den Spitzenplätzen. Und vielleicht gelingt die Rückkehr in Liga zwei.
Bleibt der Abend der Sportlerehrung der Stadt Fulda. Sascha Gramm war als Ehrengast geladen – und er genoss den Abend. „Ich bin Fuldaer Jung. Die Anfrage der Stadt kam jetzt zum dritten oder vierten Mal. Nie konnte ich wegen irgendwelcher Termine, zu denen ich unterwegs war. Dieses Mal aber hat es geklappt. Für mich war es eine besondere Ehre, dabeigewesen zu sein.“ Und er gewann diese Eindrücke. „Man repräsentiert den Sport – und lässt die Anderen ein Stück weit Anteil haben. Es geht auch darum, über den Tellerrand hinaus zu schauen.“
Das tat Sascha Gramm auch in Kirgisistan – und wir müssen einen kurzen Rückgriff auf den Lauf und seine Besonderheiten nehmen. Es zeigt, wie unwichtig der Sport und viele andere Dinge sind – im Vergleich zu dem, was der Osthessen im fernen Land erlebte. Der Botschafter, der vieles von seinen Ansichten und Überzeugungen in die Welt trägt, mit Menschen kommuniziert und sie zusammenbringt, traute seinen Augen nicht, als er Folgendes entdeckte. Einen „Mann ohne Beine“, der vor einem Haus stand. Mit seinem Rollstuhl. Er winkte Sascha zu. Und der dachte sich: „Worüber regst du dich eigentlich manchmal auf?“ Getreu dem Motto: Wir haben doch alles. Und andere, denen es nicht so gut geht, beweisen dennoch Mut zum Leben. Nachhaltig. Sie sind nicht zu besiegen.
Sport heißt demzufolge auch, mit negativen Dingen umzugehen. Sie zu bewältigen, zu bearbeiten und sie ins Positive zu drehen. Es gab in diesem Jahr „so viele Rückschläge und Tiefen, die du durchmachst und durchlebst.“ Sascha Gramm liefert die Antwort gleich mit. „Die Frage ist nur: Wie bleibe ich positiv? Wie behalte ich meine Position und die Motivation?“ Sport ist ein Abbild des Lebens. Ein Lernfaktor. Was das kommende Jahr 2026 angeht, verrät Sascha Gramm, dessen Gesundheit wieder stabil ist, nur soviel: „Im Oktober ist ein Lauf in Südafrika. In Capetown.“ 700 haben sich beworben, nur 70 werden genommen und zugelassen. Sascha ist einer von ihnen. „Vorher wird es noch den einen oder anderen Lauf geben“, fügt er nur hinzu. Sascha hat gelernt, etwaige Unwägbarkeiten abzuschätzen. Und am 13. Januar ist er nicht zum ersten Mal im Hessenfensehen bei „Hallo Hessen“ zu Gast. Es geht um Neujahrs-Vorsätze. Wir alle tragen sie in uns. Mehr oder weniger. Auch Sascha Gramm.
Abschließend schlüpft er noch einmal in die Rolle des Botschafters. Als Reflex auf die zunehmende Krankheits- und Infektionswelle, den stets zunehmenden psychischen Druck im Arbeitsleben, kommentiert er voller Überzeugung: „Laufen ist das Ventil.“ Die generelle Botschaft laute, mehr auf sich zu achten und einen Ausgleich zu schaffen für das Leben im Alltag, das immer schneller werde und sich verflüchtige. „Berufliche Verpflichtungen hat jeder, doch man muss innerlich darauf antworten. Die Kommunikation hat sich geändert.“ Worte, die sich jeder zu Herzen nehmen sollte. Auch diese Momente spürt Sascha Gramm. Er saugt sie nicht eben auf. Aber er kann gut mit ihnen umgehen. +++ rl











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