Merz hört mit – Neujahrsansprache des Ministerpräsidenten

Gerhard Merz

Fulda/ Gießen. Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, am Ende eines jeden Jahres blicken wir in besonderer Weise zurück auf das Geleistete und ziehen Bilanz. Ich kann mit Freude feststellen: 2014 war ein gutes Jahr! Allein der Ausstoß an Papyrrhussiegen konnte fast verdoppelt werden. 354 Papyrrhussiege – zum Vergleich: 2013 waren es noch 182 – wurden errungen und für die Nachwelt festgehalten. Damit ist die maximale und optimale Versorgung der Menschen in Hessen mit sprachlichen Fehlleistungen mehr als gewährleistet, Hessen nimmt auch unter der schwarz-grünen Landesregierung einen Spitzenplatz unter den Flächenländern ein. Aber auch bei den hässlichen Wörtern, also beim Sprachmüll im engeren Sinne, war erneut eine erfreuliche Entwicklung zu beobachten.

Eine lebendige sprachliche Fehlleistungs- und Sprachmüll-Kultur legt in besonderer Weise Zeugnis ab von der Lebendigkeit der Kulturnation. Das Aufkommen an Kulturen konnte ebenfalls im abgelaufenen Jahr weiterentwickelt werden. (Vgl. dazu Kolumnen vom 30.3., 6.10. und vom 16.12.20104) Die Landesregierung strebt daher an, dass die in langjähriger mühevoller Arbeit angelegten Verzeichnisse der vielfältigen Kulturen, der sprachlichen Fehlleistungen und des Sprachmülls in das UNESCO-Weltkulturerbe-Verzeichnis aufgenommen werden.

Eine moderne Sprachpolitik muss in besonderer Weise die Sprache der Menschen abbilden, wir müssen die Menschen auch sprachlich da abholen, wo sie stehen. Das bedeutet nicht, dass wir alles abnicken, was die Menschen sagen, sondern dass wir abschichten zwischen einer abundanten Sprache auf der einen und der sprachlichen Abzocke auf der anderen Seite, mit denen mancher seine Sprachaffinität nachweisen zu können glaubt.

Diese Landesregierung hat in der Sprachpolitik in besonderer Weise entscheidende Akzente gesetzt und sie besitzt im Hinblick auf Papyrrhussiege fast schon ein Alleinstellungsmerkmal, während die Opposition offensichtlich allein auf hässliche Wörter setzt, ja diese geradezu für ein Allheilmittel zu halten scheint.

Ich möchte in diesem Zusammenhang und an dieser Stelle in besonderer Weise vor der neumodischen Ambulantisierung der Sprache – also gewissermaßen der Sprache-to-go – warnen, und dafür plädieren, dass wir sprachpolitisch stärker in der klinischen Versorgung andocken. Sprachkliniken zum Anfassen sind hier ebenso angedacht wie angesagt. Ich möchte dabei aber nicht in Ankündigungeritis ausbrechen, sondern dies mehr anmahnen bzw. eine entsprechende Ansage machen.

Wenn wir als große Phrasennation und wir als leistungsfähiges Phrasenland Hessen auf dem zunehmend globalisierten Sprachmarkt anschlussfähig bleiben wollen, dann muss eine neue Sprach-Architektur entstehen, die als entscheidendes Asset die Atmungsfähigkeit unseres Sprachsystems auch in der Zukunft in besonderer Weise gewährleistet.

Diese Frage muss also geordnet aufgerufen werden, damit wir auch in Zukunft sprachlich breit und modern aufgestellt sind. Deshalb war es richtig, dass die Landesregierung hier einen entsprechenden Aufschlag gemacht hat, denn erst durch den alternativlosen Aufwuchs der Versorgung mit hässlichen Wörtern auf aktuell 105 % sind wir auf Augenhöhe mit den führenden Sprach-und Phrasenwirtschaften der Welt und können diese Position ausbauen und vertiefen.

Aber auch für die sprachliche Willkommenskultur ist diese Entwicklung von besonderer Bedeutung. Sprachkenntnisse sind der Schlüssel für gelingende Integration. Nur wer die deutsche Sprache in vollem Umfang schlecht beherrscht, kann gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Gerade für die Politik gilt, dass nur der erfolgreich sein kann, der über ein vollständiges Repertoire an sprachlichen Fehlleistungen und über einen großen Vorrat an Sprachmüll verfügt. Deshalb ist es in besonderer Weise für Menschen mit Migrationshintergrund wichtig, hier gleichberechtigt und diskriminierungsfrei teilzuhaben. Der Beauftragte der Landesregierung für Integration und Antidiskriminierung wird deshalb ein Landesprogramm zum barrierrefreien Zugang zu sprachlichen Fehlleistungen auflegen.

Ein anderer Punkt, der in besonderer Weise Sorgen bereitet, ist die nach wie vor hohe soziale Selektivität bei sprachlichen Minderleistungen. Wir warnen vor jeder sprachlichen Einwohnerveredlung und vor sprachlichem Elitismus. Der Zugang von Menschen zu hässlichen Wörtern und Papyrrhussiegen ist in Deutschland in hohem Maße vom sozialen Status abhängig. Die Chance eines Kindes aus Arbeiterfamilien, hässliche Wörter zu erlernen und zu einem Papyrrhussieg zu kommen, ist um ein vielfaches geringer als bei Kindern aus Akademikerhaushalten. Am Ende des Tages wird deshalb eine bloß 105%ige Versorgung nicht ausreichen. Für eine sprachpolitische Erfolgsgeschichte brauchen wir daher eine Entdeckelung der Versorgungsquote, wir brauchen eine Art sprachliche Entrepreneurship, wir brauchen Sprach-Erfahrungsaustauschgruppen, in denen ergebnisoffen und ergebnisorientiert die evidenten Ergebnisverbesserungspotentiale eruiert und evaluiert werden, damit wir von der Politik des bloßen sprachlichen Events zu einer evidenzbasierten Politik der Exzellenz im Rahmen einer Strategie der Exzellenzcluster übergehen können. Die Arbeitsgruppen im Rahmen des von der Landesregierung einberufenen Bildungsgipfels bieten dazu eine hervorragende Plattform und werden die erforderlichen Rahmenbedingungen stricken.

Die Landesregierung wird deshalb auch in Zeiten knapper Kassen flächendeckend wie ein Rasenmäher an ihren Programmen zur Verbesserung der Sprachqualitätsverschlechterung festhalten und sie im Rahmen des Sozialbudgets zu einem vor Kürzungen besonders geschützten Bereich machen.

ich habe nicht die Absicht, hier in der Sprachpolitik mit dem sprachlich-moralischen Zeigefinger auf andere zu deuten. Ich möchte vielmehr darauf hinweisen, dass wir in der Sprachpolitik immer die enggestrickten Zeitfenster im Gesicht haben müssen, dass zwingend zeitnah Entscheidungen getroffen werden müssen. Deswegen ist es nicht zielführend, wenn die Zeitachsen ständig nach hinten verschoben werden und wir deshalb auf der Zeitschiene nicht vorankommen. So kann zielorientiertes Handeln in der Zivilgesellschaft nicht aussehen, wenn wir alle sprachlich zukunftsfähig bleiben wollen. Wir sehen dabei aber sowohl die Notwendigkeit der Zuspitzung einerseits, als auch eine gute Zusammenarbeitsgrundlage aller sprachpolitisch verantwortlichen Kräfte andererseits.
Lassen Sie mich zum Schluss den Vielen, die in besonderer Weise zu dem nach wie vor erfreulich schlechten Sprachstand beigetragen haben, meinen tiefempfundenen Dank aussprechen. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie schwer es ist, Tag für Tag so viel dummes und unnützes Zeug zu reden! Mit Helmut Kohl können wir sagen: Wir haben eine große Niederlage errungen!
Blicken wir nun auf das kommende Jahr 2015. Was wird es bringen? Ich denke, wir haben allen Grund, optimistisch zu sein, auch wenn die Zukunft manchmal verhangen ist und einem nicht gleich etwas einfällt, was man sagen könnte: „Manchmal ist man auch sprachlos und dann sagt man was….“ (D. Thoma, ARD-Übertragung Neujahrsskispringen, 1.Januar 2015)
In diesem Sinne wünsche ich uns allen ein frohes und wortreiches neues Jahr 2015!
Herzlichst Ihr
G. Schwätz
Ministerpräsident

+++ fuldainfo | gerhard merz