Kurzer Lehrgang der politischen Anatomie, Teil II

Gerhard Merz

Gießen/ Fulda. In Teil I des „Kurzen Lehrgangs der politischen Anatomie“ haben wir uns mit dem Bewegungsapparat im Allgemeinen und mit der Dialektik von Beweglich- und Standfestigkeit befasst, beides unabdingbare Voraussetzungen für jede Politik. Gerade diese Dialektik des statischen und des dynamischen Prinzips stellt für den Bewegungsapparat eine große Herausforderung, ja häufig – besonders bei nicht voll austrainierten politisch Aktiven, selbst bei Profis – eine extreme Belastung dar. Und wo würde sich diese Belastung eher bemerkbar machen als bei: natürlich der Achillessehne, die der Schwachpunkt, sozusagen die eingebaute Sollbruchstelle des (nicht nur) politischen Bewegungsapparates ist. Höchste Zeit also für eine Bestandsaufnahme. Freilich: Bereits ein kleiner Überblick über besonders gefährdete Bereiche zeigt: Die Achillesferse ist die Achillesferse der Achillessehne!

„Umfrage zur Landesregierung: Achillesferse Bildung“ (Stuttgarter-Zeitung.de, 27. März 2015) ist da noch eine vergleichsweise klare Aussage, schon schwieriger wird es wenn „die Medien als legitimatorische Achillesferse der Politik“ (hammelsprung.net, 28. August 2014) ausgemacht werden. Ob die Pädophilie-Debatte bei den Grünen tatsächlich zur „Achillesferse der Ökopartei“ (taz, 12. November 2014) und das V-Leute-Problem zur „Achillesferse im NPD-Verbotsverfahren“ (endstation-rechts.de, 25. März 2015), das muss zum gegenwärtigen Zeitpunkt offen bleiben. Dass die PKW-Maut zur Achillesferse für die Mobilität in Europa werden könnte, das ist weitgehend Konsens, dass aber das Mautkonzept selbst eine Achillesferse hat, nämlich in Gestalt der „Tagesgeschäftsreisen ohne Übernachtung“ (zukunft-mobilitaet.net, 24. Februar 2015), das ist der Öffentlichkeit bisher verborgen geblieben, ist aber nun dank der unermüdlichen Tätigkeit der Achillesfersenforschung ans Tageslicht gekommen. Zu erwarten ist, dass in Kürze bekannt wird, dass die PKW-Maut zur Achillesferse der Tagesgeschäftsreisenden geworden ist.

Dass auch Städte und ganze Länder Achillesfersen haben, erhellt daraus, dass es z.B. in Frankfurt der Wohnungsmangel die „Achillesferse der Stadt“ (OB Peter Feldmann, FR, 27.Juni 2014) ist und dass es eine „Achillesferse in Russlands Tür“ (Moskauer Deutsche Zeitung, 21.November 2013) gibt. Ob freilich die Tatsache, dass Indien eine „Demokratie mit sozialer Achillesferse“ ist, als soziale Fortentwicklung der Achillesferse gewertet werden kann oder ob es nicht vielmehr so ist, dass in Indien das Soziale die Achillesferse ist, muss ebenso dahingestellt bleiben wie die Frage, ob Malta sich – vom ökologischen Standpunkt betrachtet – darüber freuen soll, „die Bio-Achilles-Ferse Europas“ (bio-markt.info, 16. April 2015) zu sein. Unstreitig dürfte hingegen sein, dass die Firma Conti recht daran tut, angesichts der Frage „China: Schlaraffenland oder Achillesferse“ an seiner Chinastrategie zu feilen. (impulse.de, 14. November 2014)

Womit wir endgültig auf dem weiten Feld der Ökonomie wären, wo die Achillesfersenforschung sich nicht klar darüber werden kann, ob nun die Rohstoffversorgung (Handelsblatt, 11.Januar 2008), die Altenpflege (www.dw.de, 25. August 2014) oder die Digitalisierung die „Achillesferse der deutschen Wirtschaft“ (tns-infratest.com) wird. Ebenso unübersichtlich ist die Lage bei der Energiewende, wo die Frage, ob die „Stromautobahnen: Rückgrat oder Achillesferse der Energiewende“ (arte journal, 24. Februar 2014) sind, ebenso ihrer Beantwortung harrt, wie die, ob „SuedLink – Hauptschlagader oder Achillesferse der Energiewende“ ist. (Die freie Welt, 27. April 2015) Von besonderem anatomischem Interesse ist bei beiden Fragen die Tatsache, dass ein Element gleichzeitig zwei völlig verschiedene physiologische Funktionen, einmal im Bewegungsapparat, einmal im Blutkreislauf erfüllen kann.

Festgehalten werden kann, dass der US-Dollar die Achillesferse des Weltfinanzsystems (goldseiten.de, 3. Juni 2015), die „Umwandlung zur GmbH – die Achillesferse der Unternehmensgründung“ (gruenderszene.de, 5. März 2015), die „Entscheidungsüberprüfungen – die Achillesferse deutscher Unternehmen“ (controllierungportal.de, 18. November 2014), die „Rückrufaktionen: Achillesferse der Autobauer“ (handelsblatt.com, 14. Januar 2015) und die „defensive Produktpalette die Achillesferse der Fondsindustrie“ ist (boerse-online.de, 12.Mai 2015). Eine Sonderrolle spielt wie immer die ja insgesamt rätselhafte Welt der Agrarökonomie, wo einen die Meldung, dass die „Frischmelker die Achillesferse“ sind (top agrar, Rind – Ausgabe 01/2013), noch ratloser zurücklässt.
Dass die Achillesferse in der Welt des Sports eine bedeutsame Rolle spielt, versteht sich hingegen von selbst. Da leiden ganze Vereine an Achillesfersen („Achillesferse des SC Magdeburg ist der Rückraum“, Volksstimme.de, 18. April 2015), da werden Sportler selbst zur Achillesferse („Xabi Alonso wird zur Achillesferse“, archiv.sport1.de, 16. Oktober 2014). Aber wie konnte es dahin kommen, dass das „Sprunggelenk – die Achillesferse im Sport“ (medicalsportsnetwork.com, msn 6/2012) und dass „Schalkes Achillesferse in dieser Saison das Knie“ ist (t-online.de, 21. Oktober 2013). Wie dem auch immer sei, Hilfe ist nahe, denn bald gibt es „Laufschuhe ohne Achillesferse“ (Europäisches Mittelstandsportal, Februar 2012).

Das wird dem Schmerz, der durch entzündete Achillesfersen entsteht, vorbeugen, ein wichtiger Aspekt, denn einerseits sind Schmerzen die „Achillesferse der Seele“ (Die Zeit, 14.4.1967) und andererseits bleibt die „Schmerztherapie (…) Achillesferse in der Versorgung“ (aerztezeitung.de, 21. November 2014). Da ist es tröstlich, dass auch die altbösen Feinde unserer Gesundheit so ihre Probleme mit der Achillesferse haben: Die Medizinische Achillesfersenforschung hat mittlerweile die „Achillesferse der Schlafkrankheit“ (helmholtz.de, Geschäftsbericht 2013), die „Achillesferse der Parasiten“ (spektrum.de, 3. Dezember 1997), die „Achillesferse der Bakterien“ (netdoktor.de, 4. März 2015) und die „Achillesferse des Ebola-Erregers“ identifiziert (stern.de, 19. November 2014). In der Schädlingsbekämpfung ist es gelungen, die „Achillesferse der Ameisen-Superkolonien“ (deutschlandfunk.de, 8. September 2014) zu entdecken, mit deren Hilfe die sogenannte Vernachlässigte Ameise, die in Deutschland immer mehr Fuß (mitsamt Achillesferse) zu fassen drohte, einzudämmen.

Ein Desiderat der Forschung bleibt die Stellung der Achillesferse in der Textproduktion. Das gilt nicht für diese Kolumne. Die hat zwar Hand und Fuß, aber keinerlei Achillesferse.
In Teil III des „Kurzer Lehrgang der politischen Anatomie“ beschäftigen wir uns mit Rückgrat, Kopf, Gesicht und Auge. +++ fuldainfo