Gesundheitsministerium sendet Hilferuf an Pharma-Lobby

Ex-Verfassungsrichter hält Impfpriorisierung für verfassungswidrig

Wegen des akuten Engpasses bei der Versorgung mit Impfstoff gegen die Corona-Pandemie hat sich das Bundesgesundheitsministerium mit einem schriftlichen Hilferuf an die Pharma-Lobby gewendet. „Angesichts der angespannten pandemischen Lage ist unser gemeinsames Bestreben, die Produktionskapazitäten von Impfstoffen für die Eindämmung der Covid-19-Pandemie weiter zu erhöhen. Aus diesem Grund bitte ich Sie um Unterstützung“, heißt es in dem Schreiben von Gesundheitsstaatssekretär Thomas Steffen an fünf Pharma-Verbände, über das die Zeitungen des „Redaktionsnetzwerks Deutschland“ berichten.

„Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir mitteilen könnten, ob es in Ihrem Verband Unternehmen gibt, die zu einer Erhöhung der Produktion von Covid-19-Impfstoffen beitragen können oder sich bereits hierum bemühen“, so Steffen. Es wurde unter anderem an den Bundesverband der Arzneimittelhersteller, den Bundesverband der pharmazeutischen Industrie und den V  erband forschender Arzneimittelhersteller geschickt. „Ich danke für kurzfristige Rückmeldungen, die es uns schnell ermöglichen, hier gemeinsam tätig zu werden“, schließt der Staatssekretär von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Spahn steht wegen des schleppenden Start der Impfkampagne und fehlender Impfdosen unter Druck. Vor allem vom eigenen Koalitionspartner SPD kommt zum Teil harsche Kritik am Krisenmanagement des Gesundheitsministers. Der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Carsten Schneider, sagte dem RND, der Brief an die Pharmaindustrie sei „gut und notwendig“, komme aber zu spät. „Warum eine solche Anfrage für pragmatische Lösungen zur Steigerung der Produktionskapazitäten nicht bereits vor einem halben Jahr ergangen ist, bleibt erklärungsbedürftig“, so Schneider. „Das Impfen muss ein Erfolg werden“, forderte der SPD-Politiker. Je schneller der Impfstoff in den notwendigen Mengen bei den Impfzentren der Länder ankomme, desto eher können wir  beginnen, zur Normalität zurückzukehren, so der Sozialdemokrat.

Patientenbeauftragte: Impfterminvergabe muss optimiert werden

Die Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Claudia Schmidtke, hat die Länder aufgefordert, die Vergabe von Impfterminen zu verbessern. „Sie muss dringend so niedrigschwellig wie möglich organisiert sein. Gerade die aktuell Impfberechtigten sollten auch ohne weitere Unterstützung in der Lage sein, ihren Termin verlässlich zu erhalten“, sagte die Patientenbeauftragte am Freitagnachmittag mit Blick auf den Start der Impfkampagne. Es sei eine bewusste Entscheidung der Länder gewesen, die Vergabe der Impftermine in eigener Verantwortung zu regeln. „Im Ergebnis erleben die Menschen nun völlig unterschiedliche, teils sehr komplexe Wege der Terminvereinbarung. Insbesondere für die ältere Zielgruppe, die aktuell prioritär geimpft werden soll, sind diese Regelungen zum Teil nicht nachzuvollziehen.“ Dies führe zu Unverständnis und vermeidbarem Stress, so Schmidtke. „Eine bundesweite Impfkampagne dieses Ausmaßes hat es noch nie gegeben. Es gibt daher Verständnis dafür, dass Anfangsschwierigkeiten aufgetreten sind.“ Nun müsse auch länderübergreifend aus guten und schlechten Erfahrungen gelernt und die Anmeldesysteme verbessert werden. „Erste Länder arbeiten bereits an entsprechenden Veränderungen. Das unterstütze ich ausdrücklich.“ Ziel müsse sein, die Impfanmeldungen technisch und organisatorisch so auszugestalten, dass Menschen nicht abgeschreckt werden, sondern darauf vertrauen können, einfach und ohne größeren Aufwand einen Impftermin zu erhalten. „Sicher ist, dass alle Impfwilligen auch eine Impfung erhalten werden. Allein von den zwei bisher in der Europäischen Union zugelassen Impfstoffen wird Deutschland nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums dieses Jahr mindestens 140 Millionen Impfstoffdosen erhalten.“ Es sei eine wirklich beispielhafte Leistung, dass es innerhalb eines Jahres gelungen sei, gleich mehrere Impfstoffe zu entwickeln, zu erproben und für die Verimpfung zur Verfügung zu stellen. „Allerdings muss auch in der  aktuell nachvollziehbaren Phase der Priorisierung möglichst große Planungssicherheit hinsichtlich der Impftermine ermöglicht werden, um zusätzliche Unsicherheiten in dieser ohnehin belastenden Situation zu vermeiden. Dazu gehört auch, die Corona-Pandemie und die Impfkampagne nicht als Wahlkampfthema zu instrumentalisieren.“ Die Bekämpfung dieser Pandemie sei eine überparteiliche gesamtgesellschaftliche Aufgabe und dürfe nicht an Parteigrenzen scheitern. „Das Virus jedenfalls macht an Parteigrenzen keinen Halt“, so die Patientenbeauftragte.

Ex-Verfassungsrichter hält Impfpriorisierung für verfassungswidrig

Der Staatsrechtslehrer und ehemalige Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio hält die derzeitige Regelung, wer zuerst gegen Corona geimpft wird, für verfassungswidrig. „Nach unserem Verfassungsverständnis muss das, was für die Grundrechte wesentlich ist, vom Parlament per Gesetz geregelt werden“, sagte Di Fabio dem „Spiegel“. Derzeit wird die Reihenfolge in einer Verordnung des Bundesgesundheitsministers geregelt. Wer nach dieser Verordnung noch auf absehbare Zeit nicht an der Reihe sei, könne verlangen, „dass er schon jetzt geimpft wird“, so Di Fabio, „und zwar mit der Begründung, dass die derzeitige Priorisierung verfassungswidrig ist, weil sie auf unzureichender rechtlicher Grundlage erfolgt“. In einem solchen Gesetz sollte seiner Meinung nach auch geregelt werden, wer welchen Impfstoff bekommt, wenn es mehrere unterschiedliche gebe. Nötig seien womöglich auch „Antworten, was geschieht, wenn zu wenige sich impfen lassen wollen“. Der Staatsrechtler schlägt vor, dass „Lockerungen für Immunisierte“ gegebenenfalls „einen Anreiz bieten“ könnten, sich impfen zu lassen. Di Fabio gehört dem Corona-Expertenrat des Landes Nordrhein-Westfalen an. Er ist Professor für Staatsrecht an der Universität Bonn und war von 1999 bis 2011 Richter des Bundesverfassungsgerichts. +++