Berlins Amtsärzte wollen neue Lockerungsstrategien

Junge Union kritisiert 35er-Inzidenz als Zielwert für Öffnungen

Berlins Amtsärzte fordern, Lockerungen nicht mehr an generelle Inzidenzwerte zu knüpfen. Es sei „nicht zielführend, Eindämmungsmaßnahmen an Inzidenzen von 20/35/50“ zu koppeln, heißt es einer Stellungnahme aller zwölf Amtsärzte, über die der „Tagesspiegel“ berichtet. Das Papier wurde am Wochenende als Stellungnahme an die Senatskanzlei geschickt. „Diese Inzidenzen bilden nicht das wirkliche Infektionsgeschehen ab“, schreiben die Amtsärzte. Sie seien von Testkapazitäten und dem Testwillen der Menschen abhängig. „Dadurch kommt es zu Schwankungen, die nicht die infektiologische Lage widerspiegeln.“ Es sei ein Unterschied, ob Inzidenzen durch Cluster-Ausbrüche oder breite Durchseuchung zustande kämen und auch, welche Altersgruppen infiziert seien, argumentieren die Mediziner.

Stattdessen schlagen sie vor, Maßnahmen nach den möglichen Konsequenzen einer Erkrankung auszurichten. Sie wollen „intensive Maßnahmen der Infektionsprävention“ für Alte und Kranke und gleichzeitig eine Abmilderung der Maßnahmen für andere Gruppen wie Schulkinder. Es soll deshalb in Zukunft eine nach Alterskohorten ausgerichtete Inzidenzanalyse als „Frühwarnsystem“ geschaffen werden. Aus dem Kreis der Amtsärzte hieß es, es sei ein „großer Unterschied“, ob eine Sieben-Tages-Inzidenz von 50 herrsche, alle Infizierten symptomfreie Kinder seien und die über 80-Jährigen schon durchgeimpft wären oder ob bei einer Inzidenz von 50 vor allem Risikogruppen betroffen seien. Danach müsste man auch die politischen Maßnahmen ausrichten. Sogenannte „NoCovid“-Strategien, wie sie von führenden Wissenschaftlern erarbeitet wurden, kritisieren die Amtsärzte scharf. Diese würden „den Lebenswirklichkeiten nicht gerecht“, heißt es. Diese Modelle würden andere Fragen der öffentlichen Gesundheit völlig außer Acht ließen. Die Leiter der bezirklichen Gesundheitsämter fordern den Senat außerdem auf, finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen, um „insbesondere zu dem wissenschaftlichen Stand der Impfungen“ aufzuklären. Ein hoher Durchimpfungsgrad sei „eine entscheidende Säule“, um sich Lockerungen leisten zu können. Am Montag kehren in Berlin wie in vielen anderen Bundesländern die Klassen eins bis drei als erste wieder in den Präsenzunterricht zurück. Die Präsenzpflicht ist allerdings ausgesetzt, der Unterricht findet im Wechselmodell statt. Die Inzidenz in Berlin sinkt seit Tagen nicht mehr, sondern stagniert. Am Sonntag lag sie bei 56,5 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner je Woche.

Junge Union kritisiert 35er-Inzidenz als Zielwert für Öffnungen

Der Vorsitzende der Jungen Union (JU), Tilman Kuban, hat eine Differenzierung der Corona-Maßnahmen angemahnt, sollte die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz unter 50 fallen. „Man kann nicht einfach die gleichen Maßnahmen fortwirken lassen, wenn die Inzidenz unter 50 gesunken ist“, sagte Kuban der „Neuen Osnabrücker Zeitung“. Im Bevölkerungsschutzgesetz werde die 50er- und die 35er-Inzidenz genannt. „Beide Zahlen sind nicht aus der Luft gegriffen, sondern nach einem breiten wissenschaftlichen Konsens im Bundestag beschlossen worden. Allerdings sehen beide Zahlen unterschiedliche Maßnahmen vor“, so Kuban. Die Maßnahmen müssten deshalb angepasst werden, wenn die 50 erreicht ist. Bislang sind weitere Öffnungen, etwa für den Einzelhandel, erst ab einer Inzidenz von 35 vorgesehen. Kuban sprach sich in der Debatte um weitere Öffnungen für einen Stufenplan aus. „Ich wünsche mir, dass wir im Pandemie-Management innovativer werden und anders als mit Grenz- und Schulschließungen reagieren. Stufenpläne, die auf die einzelnen Situationen in den Landkreisen reagieren, sind richtig. Es ist besser, dann auch viel lokaler als bislang auf das Infektionsgeschehen einzugehen“, so der JU-Chef. „Vorrang haben für mich Schulen, damit die junge Generation ihr Recht auf Bildung bekommt und psychische Schäden abgemildert werden“, so Kuban weiter. Angesichts der möglichen Gefahr, die von den mutierten Viren ausgeht, sieht Kuban dennoch Wege für weitere Öffnungen. „Dafür braucht es Tests und eine funktionierende App. So können wir dafür sorgen, dass es auch bei Öffnungen mehr Sicherheit gibt. Wir setzen darauf, dass man sich vor der Schule, dem Restaurantbesuch oder dem Treffen mit Oma und Opa testen kann. Nur so schaffen wir eine innovative Corona-Politik für die Zukunft“, sagte der JU-Chef der NOZ. +++