Virologe Stöhr nennt Lauterbach-Warnungen „Panik-Orchester“

Justizminister hält Maskenpflicht ab Herbst wieder für möglich

Der Virologe und ehemalige WHO-Pandemiebeauftragte Klaus Stöhr hat die Warnungen von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) scharf kritisiert. „Die Immunlage der Bevölkerung hat sich dramatisch geändert“, sagte das Mitglied des Corona-Expertenrats dem Fernsehsender „Welt“. Und weiter: „Das Virus hat sich abgeschwächt, und ich finde, dass sich die Verhältnismäßigkeit in dem Vokabular und in der Sprache dem Pandemiezustand anpassen müsste – Richtung Endemie. Hier muss man auch ein bisschen abrüsten in der Semantik.“ Mit Blick auf eine neue Welle, ausgelöst von der Variante BA.5 sagte Stöhr: „Richtig ist, es wird einen Atemwegserkrankungs-Winter geben.“

Der werde höhere Inzidenzen hervorrufen als in den Jahren vor der Pandemie – weil es noch Menschen gebe, die noch nicht die natürliche Immunisierung haben oder sich mit Omikron infiziert haben. „Und vielleicht gibt es auch noch eine ganze Menge Ungeimpfte“, so der Virologe. „Aber dass man jetzt schon wieder das Panik-Orchester herbeiruft und eine neue Sonate anstimmt, halte ich für unvernünftig.“ Statt neuer Einschränkungen forderte Stöhr eine neue Impfkampagne: „Jetzt muss man versuchen, die Impfkampagne anzuschieben und sich auf die zu konzentrieren, die die größte Impflücke darstellen. Das sind sicherlich die Vulnerablen und die über 60-Jährigen.“ Und dann müsse man versuchen, die Alten- und Pflegeheime zu schützen. „Das ist der Kernpunkt und Knackpunkt.“ Zu Lauterbachs Äußerungen, die Evaluierung des Expertenrats sei nur ein Puzzleteil, sagte das Mitglied des Expertenrats: „Das Erste ist, dass man mit solch einem Vokabular, das schon einmal disqualifiziert, egal wie gut das ist“, kritisierte der Virologe. „Und das zweite ist: Dann möchte ich einmal wissen, wo die anderen Puzzle Steine sind, die der Herr Lauterbach hat. Welche anderen Evaluationsberichte gibt es? Wie viele andere Kommissionen agieren, denn außer der Expertengruppe noch. Ich frag mich wie viele Puzzlesteine, Herr Lauterbach noch hat? Ich würde mal versuchen, jetzt aus den wenigen Evaluationsberichten, aus den wissenschaftlich fundierten, langfristig angesetzten, multidisziplinär zusammengesetzten Teams die Berichte zu nehmen und versuchen, damit auch Politik zu machen. Und nicht darauf zu verweisen, dass es eigentlich nur eine von ganz, ganz vielen Informationsquellen ist, die man dann beliebig verwenden kann. Ich halte das vom Vokabular nicht für angebracht“, kritisierte der Sachverständige.

Justizminister hält Maskenpflicht ab Herbst wieder für möglich

Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) schließt nicht aus, dass mit Inkrafttreten des neuen Infektionsschutzgesetzes (IfSG) wieder eine weitreichende Maskenpflicht in Deutschland eingeführt wird. „Wir werden vermutlich noch im Laufe dieses Monats ein Konzept vorlegen. Da wird die Maske sicher eine Rolle spielen“, sagte er der „Welt am Sonntag“. Sein Prinzip heiße „lageangepasstes Verhalten: Sinkt die Gefahr, dann muss man die Maßnahmen zurücknehmen“. Steige die Gefahr, dann müsse man ihr angemessen begegnen. „Der Evaluierungsbericht bestätigt der medizinischen Maske im Innenraum jedenfalls ein sehr gutes Kosten-Nutzen-Verhältnis.“ Was mögliche Zugangsbeschränkungen im öffentlichen Raum durch 2G- oder 3G-Regeln angeht, sagte der Minister: „Darüber werden wir jetzt reden müssen. Dafür müssen wir uns auch genau anschauen, welche Wirkungen die Impfstoffe haben und unter welchen Voraussetzungen das gelten könnte.“ Er sei persönlich skeptisch, „aber wir werden das jetzt sorgfältig besprechen“. Möglichen neuen Lockdowns erteilte Buschmann eine klare Absage. „Nach allem, was wir wissen, sind meiner Ansicht nach Lockdowns, Schulschließungen und Ausgangssperren heute nicht mehr verhältnismäßig.“ Solche Maßnahmen könne man, wenn überhaupt, nur in der Frühphase einer Pandemie ergreifen. „Nun befinden wir uns aber im dritten Jahr. Und wenn wir heute wissen, dass diese Maßnahmen ein ganz schlechtes Kosten-Nutzen-Profil haben, dann sollten wir uns endgültig von ihnen verabschieden“, so der Minister. In seinem Bericht zu den Corona-Maßnahmen in Deutschland hatte ein Sachverständigenausschuss am Freitag scharfe Kritik an der Datenlage und dem Zustandekommen von Grundrechtseinschränkungen geübt. Einzelne Maßnahmen konnten die Sachverständigen nach eigenen Angaben aufgrund der miserablen Datenlage nicht bewerten – mit einer Ausnahme: Maskentragen in Innenräumen wurde als nützlich bewertet, um das Infektionsgeschehen zu reduzieren. Was etwa 2G -Regeln und Schulschließungen angeht, so traf das Gremium keine klaren Aussagen. Buschmann kündigte an, die Datenlage unverzüglich verbessern zu wollen. „Ich bin froh, dass wir am Freitag bereits einen Gesetzentwurf im Kabinett auf den Weg gebracht haben, dank dessen wir künftig mehr über die Corona-Situation insbesondere in den Krankenhäusern wissen werden.“ Man werde künftig weitere Informationen dazu haben, wer wegen und wer mit Corona in den Krankenhäusern liegt und wie viele Betten dort frei sind. Ein weiterer Bestandteil würden Abwasser-Screenings sein, die Hinweise auf das Infektionsgeschehen geben können: „Insgesamt kommen wir somit zu einer verbesserten Qualität von Daten“, sagte er der „Welt am Sonntag“. +++