Söder bewertet westliches Afghanistan-Engagement als „Desaster“

Baerbock kritisiert zögerliche Hilfe für afghanische Ortskräfte

Markus Söder (CSU)

Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hat angesichts der weitgehenden Machtübernahme der Taliban eine verheerende Bilanz des westlichen Engagements in Afghanistan gezogen. „Es ist schon ein ziemliches Desaster, wenn wir ehrlich sind“, sagte der CSU-Vorsitzende mit Blick auf die Anschläge vom 11. September 2001 in der „Bild“-Sendung „Die richtigen Fragen“. Genau zum 20-jährigen Jahrestag sei die Gruppe, die damals zumindest teilweise mitverantwortlich war, zurück an der Macht. Offenkundig seien die vergangenen 20 Jahre sinnlos gewesen, so Söder. „Deswegen ist es schon unter dem Strich eine der größten Niederlagen der westlichen Politik.“ Positiv sei unter anderem „die Ausbildung einer ganzen Generation“ Afghanistan gewesen. „Aber politisch, strategisch und militärisch ist die Bilanz am Ende verheerend.“ Der bayerische Ministerpräsident forderte Sondersitzungen von NATO und EU zur Bewältigung der Krisensituation: „Es braucht eine NATO-Sondersitzung, um darüber zu reden, wie geht man jetzt damit um.“ Für Söder geht es um Antworten auf folgende Fragen: „Was bedeutet es für die internationalen Terrorwege? Kann sich Afghanistan erneut zu einem Zentrum für Terrorismus in der Welt entwickeln? Wie geht man mit der Drogenfrage um? Afghanistan ist eines der größten Drogenabbaugebiete.“ Und: „Welche Schutzaufgaben gibt es?“ Er halte es für sehr sinnvoll, „dass die Bundeswehr zusammen mit den Amerikanern Schutzdienste leistet“. Eine Sondersitzung des Europäischen Rates ist nach den Worten Söders wegen der drohenden Flüchtlingswelle erforderlich.

Baerbock kritisiert zögerliche Hilfe für afghanische Ortskräfte
Angesichts der sich zuspitzenden Lage in Afghanistan hat Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock die zögerliche Haltung der Bundesregierung bei der Evakuierung afghanischer Ortskräfte kritisiert. „Viel zu lange hat die Bundesregierung die Augen vor der Realität verschlossen“, sagte Baerbock der „Süddeutschen Zeitung“. Schon im April hätten die Grünen im Bundestag eine frühzeitige Evakuierung der Ortskräfte beantragt. „Noch im Juni haben Union und SPD diesen Antrag abgelehnt.“ Das räche sich jetzt auf „schmerzlichste Weise“. Während die islamistischen Truppen der Taliban am Sonntag Kabul erreicht haben und die afghanische Regierung eine friedliche Machtübergabe plant, versucht die Bundesregierung unter Hochdruck, Botschaftsangehörige und ehemalige afghanische Helfer deutscher Behörden mithilfe der Bundeswehr auszufliegen. Ein Mandat des Bundestags gibt es dafür noch nicht, kann nach dem Parlamentsbeteiligungsgesetz aber nachgeholt werden. Baerbock hält die Mandatsfrage für nachrangig. „Die deutsche Bundesregierung muss nun alles unternehmen, um Leben zu retten, auch mithilfe der Bundeswehr.“ Die Leben von Botschaftsangehörigen und Ortskräften, von Mitarbeitern von Hilfsorganisationen, von Frauenrechtlern seien „akut bedroht“. Die Lage sei dramatisch, das Zeitfenster schließe sich, so Baerbock: „Es geht um jeden Tag, um jede Stunde.“ Baerbock verwies auf einen Bericht von Medica mondiale, wonach 80 afghanische Frauenrechtlerinnen, die für die Hilfsorganisation gearbeitet hätten, nun in Kabul festsäßen. Sie gelten nach den Kriterien der Bundesregierung nicht als Ortskräfte und haben offiziell keinen Anspruch auf Evakuierung. „Ihr Schutz darf nicht an bürokratischen Definitionen oder an dem naiven Glauben scheitern, es seien jetzt noch die üblichen Visa-Verfahren möglich“, warnte die Grünen-Vorsitzende.

Trittin macht Maas für mögliche Tote in Kabul verantwortlich
Der Grünen-Politiker Jürgen Trittin wirft Außenminister Heiko Maas (SPD) ein beispielloses Versagen bei den Bemühungen um die Rettung afghanischer Ortskräfte der Bundeswehr vor. „Bundesaußenminister Heiko Maas hat hier viel Schuld auf sich geladen“, sagte Trittin dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“. Und weiter: „Wenn die Menschen, die noch in Kabul in den Schutzräumen warten, aber noch nicht auf dem Flughafen sind, nun nach der Einigung zwischen Präsident Ashraf Ghani und den Taliban nicht mehr gerettet werden können, ist er dafür verantwortlich.“ Seit einer Woche blockiere der Außenminister eine Rettung und unbürokratische Aufnahme in Deutschland. „So ein Versagen, das so viel Leid mit sich bringen wird, ist beispiellos“, sagte Trittin, der dem Auswärtigen Ausschuss des Bundestags angehört. Alle internationalen Kräfte müssten alles daran setzen, die eigenen Kräfte, aber auch Ortskräfte und gefährdete Personen aus den Regierungen und Verwaltungen, d ie mit der internationalen Gemeinschaft zusammengearbeitet haben, aus Afghanistan herauszuholen. Deutschland könne von den USA lernen.

Berichte: Afghanischer Präsident hat Land verlassen
Afghanistans Präsident Ashraf Ghani hat das Land wegen des Vormarsches der Taliban offenbar verlassen. Das berichtete am Sonntag unter anderem der afghanische Nachrichtensender Tolonews. Auch mehrere enge Mitarbeiter Ghanis sollen demnach geflohen sein. Das genaue Ziel des bisherigen Präsidenten war zunächst unklar, in unbestätigten Berichten war von Tadschikistan die Rede. Die Lage in Afghanistan hatte sich am Sonntag weiter zugespitzt. Die Taliban hatten im Rahmen ihrer Großoffensive am Sonntag die Hauptstadt Kabul erreicht. Kämpfer der Islamisten drangen zunächst in die Außenbezirke der Stadt ein, übereinstimmenden Medienberichten zufolge soll eine „Übergangsregierung“ gebildet werden. Die amtierende Regierung plant nach Angaben des afghanischen Innenministers Abdul Sattar Mirsakwal eine „friedliche Machtübergabe“. +++

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