Merz hört mit – Verkrustete Doppelstrukturen

Gießen. Ein wichtiger, nun ja: Ort der Politik ist die Struktur. Wer sich nicht in den krummen, ja labyrinthischen Strukturen der Politik auskennt, der ist verloren, wie es weiland Theseus ohne Ariadnes Faden gewesen wäre. Die Strukturen durchziehen die Ebenen und Felder der Politik (vgl. Merz hört mit, 24.August und 7.September 2014) mit ihren wirren und verwirrenden Mustern wie das Fettgewebe ein gutes Steak. Sie sind ebenso allgegenwärtig wie undurchschaubar. Die Liste der Wikipedia-Seiten, die mit Struktur beginnen, umfasst 156 Einträge von Struktur des Kosmos über die Struktur sportlicher Bewegung bis hin zur strukturierten Tinnitus-Therapie.

Struktur (von lateinisch strūctūra „Zusammenfügung, Bauart, Sinngefüge“) bezeichnet in der Soziologie die „Größen und Kräfte zwischen sozialen Akteuren“ und – noch allgemeiner – in der Systemtheorie die „Gesamtheit und Wechselwirkungen der Elemente eines Systems“. Insofern ist natürlich alles Struktur und die Parole „Wir müssen uns in die Strukturen begeben!“ (eine soziologisch-systemtheoretische Version des legendären „Marsches durch die Institutionen“) lässt einen insofern etwas ratlos hinsichtlich der genauen Richtung der gewünschten Bewegung zurück: Wenn alles Struktur ist, wäre dann nicht der Ort außerhalb der Struktur der berühmte Nicht-Ort, der utopos, die Utopie? Aber das ist ein zu weites Feld.

Von praktischer Relevanz ist dagegen die Frage, ob denn die angedeutete Bewegung „in die Strukturen“ hinein überhaupt eine ersprießliche ist. Denn gleichzeitig mit dieser Forderung wurde ja die „strukturelle Gewalt“ als die Gewalt, die von den Strukturen selbst ausgeht, ebenso häufig beschworen wie die „strukturelle Benachteiligung“ als die in den Strukturen verankerte Benachteiligung, die wiederum – wie anders – zur „strukturellen sozialen Ungleichheit“ führt. Auch die „strukturellen Defizite“, die „Strukturprobleme“, die „Strukturanpassungsprobleme“ vor allem in „strukturschwachen Regionen“ sind allgegenwärtig.

Ein besonderes Problem stellen ohne Frage die „verkrusteten Strukturen“ dar. Offensichtlich kann eine Struktur nicht bestehen, ohne in meist nur allzu kurzer Zeit zu verkrusten. Das Aufbrechen verkrusteter Strukturen ist daher eine der häufigsten und entbehrungsreichsten, ja nachgerade gefährlichsten Arbeiten in der Politik. Die blutbefleckten Hände manch eines Politikers kommen häufig daher, dass er beim Aufbrechen der verkrusteten Struktur nicht aufgepasst und sich an den entstehenden Ecken und Kanten und Zacken verletzt hat. Aber auch anderswo lauern Gefahren: „In der Bundespräsidentendebatte sind offenbar Dämme gebrochen, die längst überwunden geglaubte Verkrustungen offenbaren.“ (Emder Zeitung, 22.02.2012) Und die nun ebenso aufgebrochen werden müssen, wie es die Dämme schon sind……

Umso mehr gilt das alles natürlich für die berühmt-berüchtigten „Doppel- oder Parallelstrukturen“. Die alte Lebensweisheit „Doppelt gemoppelt hält besser!“ gilt hier verständlicherweise nicht, hier muss es heißen: „Doppelte Struktur verkrustet doppelt!“ Deshalb war der Satz: „Es sind von verschiedenen Seiten Parallelstrukturen angemahnt worden.“ (MdL-FDP) natürlich irreführend, denn niemand, der um das abgründige Wesen der Struktur weiß, wird auf den Gedanken kommen, mehr davon anzumahnen. Und der aus der SPD – als nämlich gerade die 159 familienpolitischen Leistungen auf dem Prüfstand (vgl. Merz hört mit, 18.Mai 2014) standen – erhobene Ruf: „Wir wollen in Strukturen und nicht in Individuen investieren.“ musste ebenso unverständlich – und wohl auch deswegen unbeachtet – bleiben wie die Forderung nach einer „Willkommensstruktur“, die man sich wohl als Fortentwicklung der allgegenwärtigen „Willkommenskultur“ (vgl. Merz hört mit, 30.März 2014)denkt. Was man aber mit der zu erwartenden verkrusteten Willkommensstruktur anzufangen gedenkt, bleibt natürlich strukturell ausgeblendet. Naheliegender wäre da schon die Forderung nach Strukturanpassungsprogrammen, möglichst auf EU-Ebene. Aber auch die würden wahrscheinlich nicht viel helfen, denn: „Wer sich in die Strukturen begibt, kommt darin um!“ +++ fuldainfo | gerhard merz