Gottesdienst in Gebärdensprache: Lebendig und ausdrucksstark

Eine sprachliche Minderheit

Pfarrerin Melanie Keller-Stenzel

Ein Gottesdienst ohne Kirchenmusik in völliger Stille kann doch nur langweilig sein. Falsch! Wenn Pfarrerin Melanie Keller-Stenzel für ihre gehörlosen Gemeindemitglieder predigt, sprüht sie förmlich vor Energie.

Ein Besuch beim evangelischen Gebärdensprachgottesdienst im Haus Oranien Fulda

Einen Text herunterzuleiern, ist für Pfarrerin Melanie Keller-Stenzel unmöglich. Während sie mittels Gebärden predigt, bewegt sie lautlos die Lippen. Die gesamte Klaviatur der Körpersprache ist im Einsatz: Augenbrauen, Mundwinkel, Schultern – ein entschlossener Blick. Auch mit welcher Intensität sie die Gebärden macht, ist ebenfalls bedeutsam. Während sie auf jedes Detail ihrer Kommunikation achtet, bindet sie die Gottesdienstbesucher aktiv mit ein. Es geht um die Jahresauslosung aus Psalm 34,15 „Suche Frieden! Suche ihn mit deiner ganzen Kraft“. Wozu brauchen die Teilnehmer Kraft? Was bedeutet ihnen Frieden? Viele Hände sind unablässig in Bewegung, lebhaft bringen sich die Gemeindemitglieder ein, tauschen sich auch kurz untereinander aus. Ganz bewusst lockert die Pfarrerin regelmäßig ihren Gottesdienst auf, lässt andere zu Wort kommen. Sich über längere Zeit auf Gebärden zu konzentrieren, strengt an. Auch deshalb steht heute der Alter nicht vor dem Fenster, wie sonst üblich, sondern an der Wand. Ins Gegenlicht zu schauen, ermüdet die Augen. Damit Hörende eine Predigt verfolgen können, muss es still – für Gehörlose vor allem die Pfarrerin gut zu sehen sein. Nun stehen alle auf und beten. Ein Gottesdienstbesucher spricht das Vaterunser laut mit und ist erstaunlich gut zu verstehen – ein unvermittelter Gänsehautmoment für Hörende inmitten der lebhaften Stille. Andere im Raum bewegen lautlos die Lippen, manche geben Geräusche von sich.

Eine sprachliche Minderheit

Nach dem Gottesdienst findet der Gemeindenachmittag bei Kaffee und Kuchen statt, der ein wichtiger Austausch für die Gemeindemitglieder ist. Die Teilhabe in der Welt der Hörenden ist aufgrund der Sprachbarriere oft schwierig – schnell kann man sich ausgegrenzt fühlen. „Statistisch ist etwa jeder 1.000. Mensch von Gehörlosigkeit betroffen. Sie bilden eine sprachliche Minderheit, leben zerstreut und suchen Gemeinschaft“, erklärt mir Pfarrerin Melanie Keller-Stenzel im Gespräch. Auch deshalb stehen gemeinsame Ausflüge und Feste auf dem Programm der Kirchengemeinde. Sebastian Sonntag reist regelmäßig aus Hanau an, da ihm die Fuldaer Gemeinde besser gefällt. Hier trifft er Menschen von Jung bis Alt. Ein Ehepaar aus Bayern findet regelmäßig den Weg ins Haus Oranien, auch Katholiken nehmen teil. Keller-Stenzel ist seit 2012 in der Gehörlosenseelsorge in den Landkreisen Fulda und Main-Kinzig für alle Kasualien von der Taufe bis zur Bestattung zuständig. Auch Alltagsprobleme der Gemeindemitglieder sind wiederkehrende Themen. Die Inklusion, sprich „die vollständige gesellschaftliche Teilhabe in allen Bereichen“, ist aber noch weit entfernt.

Vorteile der Gebärdensprache

„Gebärdensprache ist besonders lebendig und ausdrucksstark – und sie bietet weitere Vorteile“, führt Keller-Stenzel im Gespräch weiter aus. Für ihre Predigt muss sie Bibeltexte übersetzen. Dabei konzentriert sie sich auf die Kernaussagen und wie sie diese verständlich vermitteln kann. Geschwurbel gibt es nicht, sondern klare Botschaften! „Auch für mich persönlich erschließen sich die altvertrauten Bibeltexte durch das Übersetzen noch einmal ganz neu“, sagt sie. Zudem sehen sich beim Gebärden alle an, nehmen den Menschen in seiner Gesamtheit wahr. Letztlich heißt es wach im Hier und Jetzt zu sein. Ganz bewusst nutzt sie den Begriff Gebärdensprachgottesdienst. Die Menschen definieren sich nicht über das fehlende Gehör, sondern über die gemeinsame Sprache. In der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck sind neben Pfarrerin Keller-Stenzel noch drei weitere Pfarrer in der Gehörlosenseelsorge tätig. Gebärdensprachgemeinden gibt es in Kassel, Korbach, Eschwege, Homberg, Bad Hersfeld, Marburg, Hanau und Fulda. +++ jens brehl