Experte: Effekt des Wahlrechtskompromisses nur gering und ungerecht

Grünen-Chefin kritisiert Wahlrechtsreform

Der Mathematiker und Wahlrechtsexperte Christian Hesse prognostiziert, dass der Kompromissvorschlag der großen Koalition zur Wahlrechtsreform nur „eine sehr geringe Bremswirkung“ auf das Wachstum des Bundestags haben wird. Das sagte Hesse „Zeit-Online“. Hesse berät die Politik seit Jahren in Wahlrechtsfragen und war unter anderem Mitglied einer Kommission unter Leitung von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, die sich bereits in den Jahren 2018 und 2019 an einer Reform des Wahlrechts versuchte, aber scheiterte.

Wendete man die geplanten Neuregelungen auf das Wahlergebnis von 2017 an, würde sich das Parlament laut Hesse nur um 19 Sitze verkleinern. Statt 709 Abgeordnete säßen dann dort 690 Parlamentarier. Die Sollgröße liegt bei 598 Sitzen. Der Mathematiker, der an der Universität Stuttgart lehrt, warnte außerdem, dass die vorgeschlagenen Änderungen den Bundestag ungerechter machen könnten. „Die drei nicht ausgeglichenen Überhangmandate, die wahrscheinlich der Union zugutekämen, wären eine Art Bonus, der das Zweitstimmenergebnis zu ihren Gunsten verzerren würde“, sagte er. „Das kann auch die Verrechnung der Direktmandate mit den Listenmandaten aus anderen Bundesländern nicht aufwiegen.“

Grünen-Chefin kritisiert Wahlrechtsreform

Die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock hat die von Union und SPD vereinbarte Wahlrechtsreform scharf kritisiert. „Dass es die große Koalition seit 2013 nicht zustande bekommt, einen vernünftigen und wirksamen Vorschlag zur Verkleinerung des Bundestages vorzulegen, ist ein Armutszeugnis“, sagte sie dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“. Es schade der Glaubwürdigkeit demokratischer Politik, wenn CDU und CSU über Jahre „nur für ihren eigenen Vorteil“ kämpften und nicht in der Lage seien, „im Gesamtinteresse des Landes zu handeln“. Die beschlossenen Schritte seien nichts als eine „Scheinlösung“, so Baerbock. „Sie werden den Bundestag kaum verkleinern, obwohl die Regelgröße jetzt schon um 111 Sitze überschritten wird.“ Es brauche keine Kommission, mit der man sich selbst vor politischen Entscheidungen drücke, sagte die Grünen-Politikerin. Es brauche vielmehr die Fähigkeit und Größe zu entscheiden. Sowohl bei der Verkleinerung des Bundestages als auch bei der Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre lägen die Argumente, Fakten und Vorschläge auf dem Tisch, sagte die Grünen-Chefin dem RND.

Ex-Verfassungsrichterin kritisiert Wahlrechtsreform

Die ehemalige Verfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff hat die Minireform des Wahlrechts für die Bundestagswahl 2021 kritisiert. „Das größte Problem ist, dass man die ganze Zeit hat verstreichen lassen, mit deren Fehlen jetzt entschuldigt werden soll, dass nichts Besseres herausgekommen ist“, sagte Lübbe-Wolff dem „Handelsblatt“. Es laufe „auf eine ziemlich kleine Katzenwäsche hinaus“. Nach jahrelangem Streit hatten sich die Spitzen von CDU/CSU und SPD am Dienstagabend auf eine Wahlrechtsreform geeinigt, um ein weiteres Aufblähen des Bundestags zu verhindern. Für die Wahl 2021 sind einzelne Maßnahmen vorgesehen. Erst für die Wahl 2025 soll es grundlegende Neuerungen geben. Die frühere Verfassungsrichterin Lübbe-Wolff, die mit dem Bundesverfassungsgericht das Bundeswahlgesetz zweimal kippte, sieht vor allem das Vorhaben kritisch, die Überhangmandate „teilweise“ mit Listenmandaten zu verrechnen. Dazu gebe es die Festlegung, dass „zugleich eine föderal ausgewogene Verteilung gewährleistet“ sein soll. „Genau da liegt aber der Hase im Pfeffer“, sagte Lübbe-Wolff. „Denn eine Anrechnung von Überhangmandaten auf Listenmandate ist nicht in dem Land möglich, in dem die Überhangmandate angefallen sind.“ Das Problem besteht demnach gerade darin, dass dort mehr Direktmandate gewonnen wurden als der betreffenden Partei in dem Land nach ihrem Zweitstimmenanteil zustehen. „Listenmandate, auf die man etwas anrechnen könnte, fallen daher für diese Partei gar nicht an“, so die Juristin. Auch die Wirkung des zusätzlich vorgesehenen Verzichts auf „bis zu drei“ Überhangmandate sei offen: „Je nach Interpretation bringt auch diese geplante Ausgleichsbegrenzung keinen großen Begrenzungseffekt für die Größe des Bundestages.“ +++

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