Entwicklung des Ukrainekriegs – Jilge zeichnete ein detailreiches Bild

Kooperationsveranstaltung von GSP mit Akademie des Bistums

Ein Blick auf den Beginn der Kampfhandlungen am 24. Februar 2022 und dem, was Jahre zuvor geschah, genügt alleine nicht, um den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine in all seiner Vielschichtigkeit zu verstehen. Zuordnungen wie „Russische Welt“, „Neurussland“ oder Ukraine?“, die Wilfried Jilge präzisierte, samt „historisch-politischer Hintergründe zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine“ helfen, die komplexe Gemengelage dieses nicht nur für die Ukraine, sondern für die gesamte Welt so gefährlichen Konflikts besser einzuordnen. Auf einer hybriden Kooperationsveranstaltung der Fuldaer Sektion für Sicherheitspolitik (GSP) sowie der Katholischen Akademie des Bistums sprach der Osteuropa-Historiker und Ukraine-Experte am Berliner Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF) im Bonifatiushaus und überraschte seine Zuhörer:innen mit einer Fülle teils weniger bekannter Details.

Rekord

Von einem „Rekord“ in diesem Jahr sprach Akademiedirektor Gunter Geiger zum Veranstaltungsauftakt. 60 Zuhörer:innen seien anwesend und eine beträchtliche Zahl im Netz.“ Das sei ohne Frage einem „spannenden, aber auch traurigen Thema“ geschuldet. GSP-Sektionsleiter Michael Trost dankte Geiger als Gastgeber und Kooperationspartner „für viele Jahre guter Zusammenarbeit.“ Putins völkerrechtwidrige Anerkennung der Separatistengebiete von Lugansk und Donezk habe die meisten erahnen lassen, dass schon sehr bald ein russischer Vorstoß bevorstand. Am 24. Februar habe schließlich die Invasion ukrainischen Bodens begonnen. Durch ihren entschiedenen und erfolgreichen Widerstand habe sich die ukrainische Armee Respekt verdient. Inzwischen werde ein Abnutzungskrieg erwartet, den „Russland nicht gewinnen kann und darf“, wie Trost unterstrich, der auch darauf aufmerksam machte, dass Jilge bereits am Vormittag vor rund 110 Schüler:innen der Rabanus-Maurus-Schule referiert hatte. Gleich zu Beginn zeichnete Jilge ein völlig anderes als das hinlänglich bekannte Bild des russischen Präsidenten. Wladimir Putin sei ein „rechter, kalkulierender Ideologe, ein kalkulierender Draufgänger.“ Unter dieser Prämisse ist auch sein Handeln zu verstehen, das darauf beruht, Russland als „imperiale Großmacht“ zu sehen, die die Einflusssphäre der ehemaligen Sowjetunion für sich beansprucht.

Russische Welt

Wie hat Russland sein Vorgehen in der Ukraine, das bereits 2014 mit der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim und mit von Russland geschürten Unruhen im Osten der Ukraine begonnen hatte, begründet? Im Wesentlichen mit der „Ideologie der russischen Welt“, deren Wertebasis die des russischen Patriarchats von Moskau ist – und damit nach Patriarch Kyrill I. der „Erinnerungsgemeinschaft des kanonischen Territoriums des Kiewer Rus“ entspricht. Bereits 2014 habe Wladimir Putin vor diesem Hintergrund von den „Russen als geteiltem Volk“ gesprochen und das „Streben nach Einheit“ deutlich gemacht. Aus dieser Sichtweise resultiere die „Verantwortung Russlands zur Verteidigung seiner Landsleute.“ Im April des gleichen Jahres habe der russische Präsident „weitere territoriale Ansprüche gegenüber der Ukraine geltend gemacht“ mit dem Ziel, das Land in zwei Hälften zu teilen. Der ukrainische Staat sollte aus Sicht der russischen Führung „dysfunktional gemacht werden.“ In seiner „Krim-Rede“ vom April 2014 im Moskauer Kreml  habe der russische Präsident das Vorgehen Russlands während der Krimkrise mit Verweisen auf die Geschichte und mit der Stimmung in der Bevölkerung auf der Krim und in Russland gerechtfertigt. Obwohl es weder Spannungen noch ethnische Unterdrückung auf der Krim gegeben hatte. Vielmehr befürchtete Putin, dass mit einer Westorientierung der Ukraine die NATO in die russischen Häfen auf der Krim einziehen würde. Das hatte immer wieder „massive prorussische Proteste auf der Krim“ zur Folge.

Neurussland

Gleichzeitig habe Putin mit einem historischen Rückblick die Bolschewisten für die aktuelle Entwicklung in der Ukraine mitverantwortlich gemacht. Denn diese hätten nach der Revolution 1917 Teile des historischen Südens Russlands der Ukrainischen Republik angeschlossen. Dieser Südosten der Ukraine  sei „historisches Gebiet Russlands („Neurussland“), was sie (die Revolutionäre) damals abgegeben haben.“ Diesen Begriff wiederholte Putin immer wieder. (Anmerkung: „Neurussland“  bezieht sich laut Jilge auf die Entwicklung Russlands unter Katharina der Großen und geht stark auf die Eroberung des 18. Jahrhunderts nördlich des Schwarzen Meeres zurück). Als nicht minder falsch und als „Fehler“ stufte Putin die 1954 unter Chruschtschow getroffene Entscheidung ein, die Krim der damaligen Ukrainischen Sowjetrepublik anzugliedern. Für die friedlichen Proteste im Rahmen der Maidan-Proteste habe der russische Präsident hingegen anfänglich sogar Verständnis gezeigt; es sei legitim, gegen Korruption, ineffiziente Verwaltung und Armut zu protestieren. Putins Sicht habe sich jedoch rasch gewandelt. Die Ereignisse des Jahres 2014 mit dem „Sturz“ des moskautreuen ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch seien von Putin als „gefährliche Zäsur und Bedrohung des Systems der Autokratie in Russland empfunden“ worden. Vor dem Hintergrund, dass das „putinsche System ein Machtzirkel“ ist, um den sich die Oligarchen gruppieren, sei Gefahr in Verzug gewesen. Denn wenn es in der Ukraine gelingen würde, die „korrupten autoritären Machthaber“ abzuwählen, dann hätte ein Teil des eigenen russischen Systems vor Gericht landen können. Das wiederum hätte nach Jilges Meinung auch Einfluss auf die Bevölkerung Russlands haben können, da viele Russen sich zunächst mit der Maidan-Bewegung solidarisiert hatten. Dem russischen Staatsfernsehen sei es jedoch gelungen, ein Bild der Militarisierung und  Radikalisierung der friedlichen Aktion vom Maidan zu vermitteln. Der Umsturz der Regierung unter Janukowitsch sei von „Nationalisten mit Unterstützung westlicher Partner durchgeführt worden.“ Das russische Narrativ stand: Hinter den Ereignissen steckten Nationalisten, Neonazis, Russophobe und Antisemiten, die mit Terror und Verfolgung über die Ukraine bestimmen würden. In der Auseinandersetzung in der Donbass-Region sieht Jilge die „Fortsetzung der Krim Annexion.“ Hier sei es darum gegangen, einen Landkorridor vom Donbass über die Südukraine bis zur Krim zu schaffen. Der Donbass im Mittelpunkt des Minsker Friedens sei für Putin allerdings „nie das eigentliche Ziel“ gewesen, „sondern die Destabilisierung der Ukraine.“

Seerecht missachtet

Viel zu wenig beachtet worden sei Russlands Anspruch, die gesamte Schwarzmeerregion beherrschen zu wollen. 2003 sei die Entwicklung eingeleitet worden. 2014 eskalierte die Situation im Schwarzen Meer und im Asowschen Meer. Bis dahin habe die Ukraine sogar eigene Off-Shore-Gasreserven nutzen können. Nach der Annexion der Krim sind die Gasbohrinseln im Schwarzen Meer durch Russen besetzt worden. Jilge: Das bedeutete schon damals „massive Verluste für die Ukraine.“ Schon vor 2022 sei der Korridor vor der Schlangeninsel und den Gasplattformen für die Ukraine aufgrund des massiven Vorgehens der Russen auf 25 Kilometer zusammen geschmolzen. Die Ukraine habe ihr Seerecht praktisch nicht mehr wahrnehmen können. Durch die „Unterwanderung des Seerechts“ und praktiziertem „grauem Gewohnheitsrecht“ auf russischer Seite sei es der Russischen Föderation gelungen, seit 2014 125 Mittelstreckenraketen auf der Krim zu stationieren. Eine Aufrüstung, die sich auch gegen die Schwarzmeeranrainerstaaten Bulgarien und Rumänien richtet, und letztlich dazu führte, dass Russland mit Mittelstreckenraketen die Ukraine beschießen und Kommandozentralen ausschalten konnte. Die Krim sei folglich schon „immer die Achillesferse der Ukraine gewesen.“.

Zukunft

Wie sieht Jilge die weitere Zukunft? Eine zukünftige Ukraine müsse gesicherte Wege über das Schwarze Meer haben. „Wir müssen heute versuchen, internationales Recht zu etablieren.“ Das Schwarze Meer von Driftminen zu entminen, werde dabei eine der größten Herausforderungen sein. Nur so könne man Russland begegnen, das den Eindruck gewonnen hat, das Seegebiet des Schwarzen Meeres zu beherrschen, „egal, was wir auch machen“ (bis hin zum Beschuss ukrainischer Schiffe noch vor Kriegsbeginn). Bei einem Waffenstillstand der beteiligten Kriegsparteien müsse man sich fragen, „welches Abkommen von den Ukrainern unterzeichnet werden soll? Was ist mit Sanktionen? Sollen sie aufgehoben werden? Und: Was ist mit Reparationsfragen?“ Für Jilge steht zweifelsfrei fest, dass die Russische Föderation hinter die Grenzen vom 24.2. zurückkehren und der Ukraine den Zugang zu den Gewässern des Schwarzen Meeres ermöglichen müsse. Leider sieht der Osteuropa-Historiker  „zurzeit keine substantiellen Verhandlungen. Verhandlungsangebote sind oft gut gemeint. Verhandlungspunkte müssen aber fair abgesteckt sein.“ Eine Besetzung des Südens könne für die Ukraine nicht akzeptabel sein. Sie müsste mit weiterem Angriff rechnen, warnte der Referent. Generell geht Jilge davon aus, dass „man sich auf eine längere Konfrontation wird einstellen müssen.“ Der gegenwärtige Krieg fordere ebenso eine „andere Antwort auf ein Beitrittsverfahren der Ukraine in die EU.“ Die Ukrainer, so der Referent, brauchten  eine klare Perspektive und Zusage: „Ihr gehört zu uns. Wir geben Euch die Zusage, dass Ihr gewollt seid.“ Das sei für die Gesellschaft ein wichtiger psychologischer Aspekt, bedeute aber nicht, dass der angestrebte Beitritt der Ukraine zur EU schon morgen erfolge. +++ pm/mb