Der Pflegealltag in der Pandemie – Ein Rückblick mit Sven Haustein

Sven Haustein: „Es spielten sich in den Einrichtungen dramatische Szenen ab“

Sven Haustein (CDU)

Vor einiger Zeit führten wir ein Gespräch mit dem Geschäftsführer der St. Vinzenz Soziale Werke gGmbH Fulda Sven Haustein. Die Vinzenz Gruppe betreibt neben einem Hospiz in Hanau auch mehrere Kindertagesstätten und Senioreneinrichtungen. Ein Themengegenstand unseres Gespräches war die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Schwierigkeiten insbesondere für Belegschaft und Bewohner in den Senioreneinrichtungen.

Auf die Frage wie sich die Lage in den Altenpflegeeinrichtungen in der Akutphase darstellte, und ob man immer gewusst habe, was man tat, welche Lehren man aus Corona zieht und wo die besonderen Herausforderungen lagen, antwortete uns der Geschäftsführer: „Ich glaube niemand wusste so wirklich, was er da getan hat. Mitte März des vergangenen Jahres verzeichneten wir die ersten Fälle in Deutschland und jeder hatte erst einmal die schrecklichen Bilder von Norditalien im Kopf. Da ist ja das Militär alle zwei Tage in die Einrichtungen gekommen, um die vielen Toten rauszuholen. Eine ähnliche Situation hatten wir im Elsass. Dass uns die Pandemie in Europa so treffen kann, hat uns große Sorge bereitet. Unsere große Sorge war am Anfang immer gewesen: wie kriegen wir das alles hin? Vor allem auch arbeitsfähig zu bleiben. Der Grund, warum das Militär in Norditalien in die Altenpflegeeinrichtungen kam, war ja, dass die Beschäftigten in der Pflege arbeitsunfähig waren, weil sie selbst an Corona erkrankt waren. Eine große Sorge unsererseits war, dass das hier auch passieren könnte. Es gab ja keine Erfahrungswerte. Wir sind ja zum Teil heute noch mit fehlenden Erfahrungswerten unterwegs – die Coronaschutz-Impfung ausgenommen.

„Niemand hatte es vorhersehen können, geschweige denn damit Erfahrung“

Es war eine schwierige ungewisse Zeit. Wir sind seit Beginn der Pandemie in Deutschland eigentlich ganz gut durch das Frühjahr gekommen. Der Sommer vermittelte uns ein Gefühl, dass man die Pandemie ganz gut in Griff habe. Ich erinnere mich als gesagt wurde, Richtung Herbst, Winter werde alles gut, bis dahin werden die Menschen geimpft sein. Da hatte man schon so im Hinterkopf, dass wir das Gröbste überstanden hätte. Ich werde nie vergessen, wir hatten bei uns dann eine Situation, das war im September, ich will nicht sagen, dass wir eine Vorahnung gehabt hätten, aber wir haben dann trotzdem gesagt, dass man an dem Thema dranbleiben muss. Wir hatten uns dann mit allen Einrichtungsleitern getroffen und ein sogenanntes ‚Worst-Case-Szenario‘ ausgearbeitet. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir in Fulda bereits eine Einrichtung, in der viele Menschen erkrankt waren und wo es um Frage ging: Schaffen wir das überhaupt noch die Menschen hier zu versorgen? Es gab dann auch die Regelung, dass die Mitarbeiter in der Pflege anstatt 10 Stunden (nach dem Arbeitsschutzgesetz) 12 Stunden arbeiten konnten. Und so hatten wir uns überlegt, wie wir arbeitsfähig bleiben, wenn im Winter Corona noch einmal richtig zuschlagen sollte. Nach den Herbstferien im vergangenen Jahr gingen die Zahlen ja enorm nach oben und da wurde es dann richtig kritisch. Ich erinnere mich an ein Ausbruchsgeschehen in einer unserer Einrichtungen in Marburg. Marburg war zu dieser Zeit sehr stark betroffen. Und hier waren wir an einen Punkt gelangt, wo wir fast nicht mehr arbeitsfähig waren.

Stündliches Bangen, um weiterhin arbeitsfähig zu sein

Viele Mitarbeiter waren in Quarantäne, viele Bewohner an Corona erkrankt. Neun Menschen sind dann auch verstorben und wir wussten. Jede Stunde haben wir gebangt, sind wir noch arbeitsfähig? Können wir die Bewohner noch versorgen? Sämtliche Behörden, die für Pflegeeinrichtungen verantwortlich sind, konnten ihnen überhaupt nicht mehr sagen, wie man in diesem besonderen Fall jetzt vorgeht. Es konnte keiner unterstützen. Jeder war am absoluten Limit. In den Krankenhäusern hatten wir eine ähnliche Situation. So kam es dann tatsächlich, dass die Einrichtungsleitung gesagt hat, wir sind jetzt kurz davor, dass alles ist nicht mehr zu bewerkstelligen. Unsere Mitarbeiter, die ja auch in Sorge waren, ihre Familienangehörigen zuhause anzustecken, sind reihenweise zusammengebrochen. So stellte sich die Situation dar als wir das große Ausbruchsgeschehen hatten. Wir hatten dann das große Glück gehabt, dass wir uns als Vinzenz-Verbund, in den Häusern untereinander abstimmen konnten. Generaloberin Schwester Birgit Bohn hatte die Vinzentinerinnen, die mal einen Pflegeberuf erlernt hatten, aktiviert, nach Marburg zu gehen, um dort in der Pflege zu unterstützen, und das, obwohl sie ja gar nicht mehr verantwortlich war für unsere Einrichtung. Ich war ebenfalls jeden Tag in Marburg vor Ort und habe auch mitgeholfen. Das war die Situation, die wir im November 2020 hatten.

27.12.2021 – kurz aufatmen, das Impfen hat begonnen

Wir haben dann ja auch die Meldung bekommen, dass es nicht mehr lange hin ist, bis die Corona-Schutzimpfung zugelassen wird. Uns war klar, dass wir alles daransetzen mussten, hier mit dabei zu sein. Am 27.12.2020 war dann der erste Impftag in Deutschland. Weihnachten hatte man durchgearbeitet. Wir mussten von allen Bewohnern und Mitarbeitern Einverständniserklärungen einholen. Das war nicht ganz einfach, da viele Bewohner eine gesetzliche Betreuung hatten. Die Schwierigkeit bestand darin, dass diese Betreuer auch erst einmal erreicht werden mussten. Es waren ja auch Feiertage. Wir hatten es dann tatsächlich geschafft, dass wir am 27.12. die ersten Bewohner in den Altenpflegeeinrichtungen in Hosenfeld und Fulda impfen konnten. In unserer Einrichtung in Flieden war das nicht möglich, da wir hier drei Tage zuvor die ersten Fälle hatten. In den anderen Pflegeheimen konnten wir impfen. In der Region Fulda hatte man ja dann auch die Situation, dass man sich, was die Infektionen anbetrifft, im hessenweiten Vergleich rasch an die Spitze gesetzt. Schnell gerieten wir in die Situation, dass wir Personalmangel bekamen und Leiharbeitskräfte, die unterstützen konnten, waren überhaupt nicht zu bekommen. Wir hatten die Situation gehabt bei Leiharbeitskräften, dass diese teilweise bis zu 2.000 Euro am Tag für eine Leiharbeitskraft haben wollten. Das Geld hat aber nicht die Pflegekraft verdient, sondern die Agenturen. Und Sie hatten überhaupt keine andere Chance, als sich darauf einzulassen. Ähnlich war es mit der Corona-Schutzkleidung; Da haben sich Leute massiv dran bereichert.“

Landkreise und Gesundheitsämter koordinieren vorbildlich

Was gut funktioniert habe, sei die Abstimmung mit den Landkreisen Fulda und Marburg-Biedenkopf beziehungsweise den Gesundheitsämtern gewesen. „Natürlich waren auch denen die Hände gebunden, weil wo hätten sie die Leute hernehmen sollen? Es wusste ja niemand, was mit Corona auf uns zukommt. Für uns eine Erlösung als wir dann das Ausbruchsgeschehen im Haus ‚St. Katharina‘ in Flieden hatten, war die Info: Die Bundeswehr unterstützt! Und das war für mich – ich bin jetzt seit gut zwei Jahren Geschäftsführer und seit 25 Jahren in der Gesundheitswirtschaft tätig – ein hoch emotionaler Moment als dann Anfang Januar 2021 in Flieden vier Soldaten kamen zu uns kamen. Die Reservisten wurden aktiviert. Zwei Reservisten aus Fulda haben diese Unterstützung geleitet. In dieser Zeit habe ich ein völlig anderes Bild von unserer Bundeswehr bekommen.“ Der Einsatz der Bundeswehr war unbürokratisch abgelaufen. Die Reservisten waren insgesamt vier bei uns. In diesen vier Wochen waren diese rund um die Uhr im Einsatz und sind nur zum Schlafen abgerückt. Was diese vier jungen Männer geleistet haben, das war unglaublich. Normalerweise waren diese lediglich als Unterstützung für den logistischen Bereich vorgesehen. D.h. für den Transport von Essen oder der Beseitigung von Abfällen. In Spitzenzeiten der Pandemie fiel sehr viel Müll an, allein schon bei der Schutzkleidung (Kopfbedeckung, Schutzbrillen, Masken, Handschuhe, Kittel), die permanent gewechselt werden musste.

Reservisten leisten Sterbehilfe

Die vier Reservisten sind aber dann auch mit zu den Bewohnern auf deren Zimmer gegangen und haben zusammen mit Schwester Dominika dort Sterbebegleitung gemacht und die ganze Nacht deren Hände gehalten. Die Bewohner waren ja von der Außenwelt isoliert. Es durfte ja niemand zu ihnen, auch nicht in Ausnahmefällen. So waren die Bestimmungen. In dieser Zeit sind im Haus St. Katharina 16 Menschen gestorben. Als die vier Männer dann Ende Januar verabschiedet wurden, kam die komplette Belegschaft. Der Kontakt zu ihnen besteht bis heute. Es ist unglaublich, welches Szenen sich hinter den Mauern von St. Katharina abgespielt haben, und alles unbeobachtet von der Öffentlichkeit. Das waren auch ganz stille Momente. Es war wichtig, dass wir die Soldaten bei uns gehabt haben“, resümiert Sven Haustein. Ebenso sei es gut und wichtig gewesen, dass auch der Landkreis Fulda immer ansprechbar gewesen sei. „Man hatte das Gefühl, nicht alleine gelassen zu werden; Und auch in welch kurzer Zeit agiert und reagiert wurde.“

„Niemand kann sich vorstellen, was sich in den Pflegeeinrichtungen tatsächlich abspielte“

Im Großen und Ganzen könne man der Bundesregierung bzw. den Verantwortlichen keinen Vorwurf über die Entscheidungen vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie machen. Wahr ist, dass man keine Erfahrungen mit Corona und ihrem Umgang hatte. Jetzt einen Schuldigen zu suchen, sei der falsche Weg, so der Geschäftsführer der St. Vinzenz Soziale Werke gGmbH. Was man völlig unterschätzt habe, sei der Umgang mit solchen Katastrophen. Was seiner Meinung zu wenig an die Öffentlichkeit gelangen sei, sei wie sehr die in der Pflege Arbeitenden an ihre Leistungs- und Belastungsgrenzen gekommen sind. Auch er selbst musste als er eines Abends von Marburg zurück nach Fulda fuhr, von der Autobahn ab und auf einen Parkplatz fahren und einmal tief Luft holen. „Diese furchtbaren Szenen in den Senioreneinrichtungen erleben und verarbeiten zu müssen, das hat den Bediensteten viel abverlangt“, berichtet Haustein. Es sei auch noch nicht alles durchgestanden. Viele Angehörigen, die, als die Pandemie Deutschland traf und Beschränkungen verhängt wurden, nicht zu ihren Angehörigen in den Heimen durfte und darin verstarben, reichten Klage ein. Wollten eine Aufarbeitung. Ob womöglich auch Fehler vonseiten der Heimleitung, der Beschäftigten gemacht wurden. Und auch das brachte die Pandemie mit.

Dienst am Menschen bis zur physischen Erschöpfung

„Für die Leute, die in der Pflege arbeiten, tut mir das unglaublich leid. Wir haben in den Seniorenzentren getan, was wir konnten. Ein großes Wort des Dankes gebührt all jenen, die in dieser, für uns alle schweren Zeit, da waren und bis zur gänzlichen Erschöpfung ihren Dienst am Menschen verrichteten. Als sich die Corona-Situation bei uns im Landkreis immer mehr zuspitzte und noch nicht absehbar war, ob es womöglich zu einer Quarantäne-Situation der Bediensteten kommen würde, so organisierten diese Feldbetten. Ich wusste von dieser Organisation nichts und habe es erst später erfahren. Sie hatten Feldbetten organisiert, um im schlimmsten Fall bei den Bewohnern bleiben zu können. An ihre Familien zuhause dachten sie vorerst nicht.“ „Wir bleiben, wenn es richtig losgeht und wir hier gebraucht werden, bei unseren Bewohnern. Das ist meine Berufung“, zitierte Haustein eine Pflegekraft. „Sehr dankbar bin ich den Verantwortlichen, das sehr oft vieles einfach schnell und ohne großen bürokratischen Aufwand geschah. Ich hoffe, dass wir aus der Pandemie vieles für die Zukunft mitnehmen. In der Krise kristallisieren sich immer Besonderheiten heraus. Auch wenn wir vieles von dem nach einer gewissen Zeit wieder vergessen, so sollten wir mit Blick in die Zukunft Wichtiges auch mitnehmen und daraus lernen“, sagt der Geschäftsführer der St. Vinzenz Soziale Werke Fulda, Sven Haustein abschließend. +++ ja