Bericht: Regierung stritt monatelang über afghanische Ortskräfte

Kubicki: Flüchtlingsthema wird Wahlkampf bestimmen

Die Bundesregierung hat offenbar monatelang über das Verfahren zur schnelleren Ausreise von afghanischen Ortskräften gestritten. Das geht aus internen Sitzungsprotokollen hervor, über die der „Spiegel“ berichtet. Bereits am 29. April, weit vor dem Beginn der Taliban-Offensive, kamen demnach Beamte von Bundesinnenministerium, Verteidigungsministerium, Entwicklungshilfeministerium und des Auswärtigen Amts zu einer Besprechung über das „Ortskräfteverfahren“ zusammen.

Der Vertreter des Verteidigungsministeriums sagte demnach, man müsse in den kommenden zwei Monaten mit Aufnahmeanträgen von 1.500 Ortskräften, im Beamtenjargon „OK“, rechnen. Ein Großteil von ihnen habe aber keine afghanischen Pässe oder sonstige Identitätsdokumente. Das Auswärtige Amt schlug daraufhin vor, die Aufenthaltsgenehmigungen für die Ortskräfte nicht in einem langwierigen Verfahren vor der Ausreise, sondern erst nach Landung in Deutschland auszustellen. Das lehnte das Bundesinnenministerium laut Protokoll der Sitzung ab.

Es dürfe „keine Pauschallösung ohne individuelle Gefährdungsprüfung“ geben, sagten die Vertreter von Horst Seehofer (CSU). Ein obligatorischer Sicherheitscheck müsse zudem „vor Einreise abgeschlossen“ sein. Auch die Idee, die Ortskräfte mit Charterflügen außer Landes zu bringen, wurde verworfen. Das sende ein „falsches Signal“, sagte der Vertreter des Verteidigungsministeriums. Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) warnte, es dürfe bei dem gesamten Prozess in Afghanistan „keine Verunsicherung“ entstehen, argumentierten die Vertreter seines Hauses, des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), „da sonst bei den BMZ OK sowie im internationalen Kontext eine Kettenreaktion ausgelöst werden könnte“. Obwohl Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bereits Mitte Juli auf die Anmietung von Charterflugzeugen gedrängt hatte, wurde diese Lösung von den beteiligten Ressorts wieder verworfen. „Derzeit besteht nach Einschätz  ung der Ressorts mit Blick auf verfügbare Linienflüge noch keine Notwendigkeit für Chartermaßnahmen“, hieß es im Protokoll einer Ressortbesprechung am 30. Juli. Sowohl das Verteidigungsministerium als auch das Innen- und das Entwicklungshilfeministerium hielten „mit Blick auf die im jeweiligen Bereich derzeit noch eher geringe Zahl der aktuell ausreisewilligen und unterstützungsbedürftigen Familien eine Buchung auf Linienflügen für pragmatisch“.

Kubicki: Flüchtlingsthema wird Wahlkampf bestimmen

FDP-Vize Wolfgang Kubicki erwartet nach dem Sieg der Taliban in Afghanistan, dass eine mögliche Flüchtlingsbewegung zum Wahlkampfthema werden wird. „Wenn die Menschen unter einem Taliban-Regime keine Perspektive haben, machen sie sich auf den Weg, koste es, was es wolle“, sagte Kubicki dem „Spiegel“. Das seien Fragen, „die uns auf den letzten Metern im Wahlkampf beschäftigen werden“. Kubicki räumte allerdings ein, dass seine Partei noch keinen Plan habe, wie mit dem Thema umgegangen werden soll. „Wie, darüber reden wir gerade in der FDP“, sagte der Vizeparteichef. Man habe aber eine moralische Verpflichtung, diejenigen Menschen aufzunehmen, die für Deutschland in Afghanistan gearbeitet haben. „Auf größere Flüchtlingsbewegungen sind wir hingegen komplett unvorbereitet“, warnte der FDP-Politiker. Kubicki, der jüngst den Rücktritt von Außenminister Heiko Maas (SPD) und Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) gefordert hatte, kritisierte die Bundesregierung erneut scharf. „Die Menschen haben das Gefühl, das Unvermögen der Regierung fällt ihnen langsam auf die Füße. Die Coronakrise ist nicht bewältigt, die Hochwasserkatastrophe ebenso, und jetzt kommt noch das Chaos rund um Afghanistan hinzu – das ist ziemlich viel Staatsversagen auf einmal.“ +++

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