Bätzing: „Nacht aller Nächte“

Ja, das ist der tiefere Sinn dieser heiligen Tage

Bischof Georg Bätzing

Vom Abend des Gründonnerstags über den Tag des Leidens und Sterbens Jesu hat uns die große österliche Feier nun an den Anfang der Nacht geführt. Den gewohnten Tagzeiten, die unserem Leben einen rhythmischen Gleichklang verleihen, wird im Zentrum des Kirchenjahres eine besondere Färbung beigelegt. Unsere Tage werden durchwebt mit dem Faden der liebenden Hingabe Jesu. Manchmal – mitten im Alltag – erinnere ich mich abends an Jesus, wie er seinen Freunden den Staub des Tages von den Füßen wusch. Wenn freitagnachmittags um 15 Uhr die Domglocke läutet, dann kommt mir in den Sinn: „Danke, Herr, du hast auch an mich gedacht, als du gestorben bist.“ Und vor dem Einschlafen leihe ich mir hin und wieder mein Nachtgebet bei Johann Sebastian Bach (aus der Johannespassion BWV 245, Nr. 60) aus: „Jesu, der du warest tot, lebest nun ohne’ Ende. In der letzten Todesnot nirgends mich hinwende, als zu dir, der mich versühnt, o mein trauter Herre. Gib mir nur, was du verdient, mehr ich nicht begehre.“ Ja, das ist der tiefere Sinn dieser heiligen Tage, dass unser Leben mit Jesu großer Liebe verbunden wird, dass uns mit ihm das Leben gelingt durch alle Höhen und Tiefen.

Jetzt also ist Nacht – mit all ihrer Ambivalenz: Wenn die Reizflut des Tages abklingt, können wir zur Ruhe kommen. Der Schlaf ist wohltuend und lebensnotwendig; nicht umsonst ist Schlafentzug eine der härtesten Foltermethoden. Wer nicht zur Ruhe kommt, dem werden die Stunden unerträglich lang, innere Dämonen steigen auf, Ängste, Schmerzen, quälende Sorgen und Konflikte. Trostlos oder tröstlich können Nächte sein, kräftezehrend oder kraftspendend. Die Nacht wird es zeigen, so heißt es am Bett einer Schwerkranken; tatsächlich tritt über Nacht oft die Wende ein, und es entscheidet sich, ob Tod oder Leben die Oberhand haben. Die Nacht führt uns an die Grenzen dessen, was wir Menschen vermögen. Letztlich verfügen wir mit all unserem Schaffen und Können nicht allein, nicht wirklich über das, was kommt. Und alle, die schon eine Nacht durchwacht haben in Dienst und Schicht, mit Feiern und Freunden, im Kloster oder am Sterbebett, werden das Ihre zu den Facetten der Nacht dazulegen können.

Es ist Nacht. Tag und Nacht sind zwei verschiedene Erfahrungsweisen der Welt. Im Tageslicht können wir unsere Angelegenheiten erledigen. Manchmal gelingt es, und wir sind zufrieden. Manchmal bleiben wir hinter unseren Zielen zurück oder sind schlicht überfordert. Wenn dann die Sonne untergeht und wir den nächtlichen Sternenhimmel betrachten, gelingt es womöglich sogar, alles Erlebte einzuordnen und zu sehen, dass alles, was wir am Tag wahrgenommen haben, die gesamte uns vertraute Welt nur ein Bruchteil eines großen Ganzen ist, das uns unendlich übersteigt. Darum ist dieser Grenzpunkt, die Wende vom Tag zur Nacht, der Entdeckungsort des Geheimnisses. Das heißt nicht, dass wir mit unserem Denken keinen Zugang dazu hätten. Aber das Geheimnis des großen Ganzen lässt sich nicht ergründen, wir werden nie fertig damit, es bleibt der weite Horizont, in den man eintreten muss, um darin zu Hause zu sein. Es braucht Glauben und Vertrauen im umfassenden Sinn – und Mut und Demut zugleich, um dem Geheimnis des Lebens auf die Spur zu kommen. Dass die zwei größten christlichen Feste – Weihnachten und Ostern – in der Nacht beginnen, das hat seinen hintergründigen Sinn1.

Osternacht, Nacht aller Nächte. Niemand wird je ergründen, was in der Dunkelheit des Grabes geschehen ist. Es wird für immer das Geheimnis zwischen dem Gekreuzigten und seinem Gott bleiben, den er sterbend mit letzter Kraft angerufen hat. Aber die Wirkung ist nicht zu leugnen, seitdem Jüngerinnen und Jünger all ihren Mut zusammennehmen und bezeugen: Er ist auferstanden! Jesus lebt! Er hat sich uns gezeigt! Diese unfassbare Botschaft ist nicht mehr aus der Welt zu schaffen, auch mit Gewalt und Verfolgung ist sie nicht mehr kleinzuhalten bis auf den heutigen Tag. Im Glauben und Vertrauen auf die Nähe des auferstandenen Herrn wachsen Menschen in der weiten Welt über sich hinaus und lassen sich Mund und Herz und Hände für Jesus nicht verbieten. Seit dieser Nacht vor mehr als zweitausend Jahren ist das Halleluja nicht mehr verstummt – und wir hier stehen gläubig und selbstbewusst, dankbar und entschlossen in diesem Osterlied.

„Dies ist die Nacht“, der jubelnde Lobgesang überschlägt sich förmlich darin, die Besonderheiten der Osternacht zu beschreiben. Es ist die Nacht der großen Erzählungen, so spannend, dass in der frühen Christenheit niemand schlafen gehen wollte. Erzählt wird die große Geschichte eines Weges aus dem Dunkel ins Licht, aus der Fessel in die Freiheit, aus Armut und Schuld hinein in Gottes überreiche Liebe. Mitten in einer Welt voll Krieg und Not, wo auch heute Nacht Menschen sinnlos dem Hass und der Korruption, Unrecht und verantwortungslosem Verbrechen geopfert werden, hält diese Nacht die große Erzählung von 1 Vgl. Tomáš Halík, Das Geheimnis der Weihnacht. Advents- und Weihnachtspredigten voller Hoffnung (Freiburg- Basel-Wien 2023), 9.

der Freiheit einer kommenden gerechten Welt wach – und damit hält sie uns wach in unserem Einsatz für diese künftige Welt, wie Gott sie will. Alles an dieser nächtlichen Liturgie ist so überschwänglich, dass allein dies darauf hindeutet: Wir werden nicht fertig damit. Wir können es vernünftig nicht erklären. Unser Denken und Empfinden kommt an seine Grenze – und will doch darüber hinaus, hinein in die Welt des Auferstandenen, die so hoffnungsfroh und verheißungsvoll lockt und zieht. Ein wenig „verrückt“ klingt es schon, wenn wir ernsthaft die Nacht als unser Gegenüber ansprechen: „O wahrhaft selige Nacht, dir allein war es vergönnt, die Stunde zu kennen, in der Christus erstand von den Toten.“ Aber, was sollen wir auch sonst tun, wenn es doch wahr ist!

Es ist Nacht. Osternacht. Sie hat nichts an Faszination verloren. Gleich dürfen wir erleben, dass Erwachsene und Kinder den Sprung des Glaubens wagen und durch die Taufe hinüberwechseln ins Licht der großen Freiheit. Und wir, die diesen Schritt schon lange vollzogen haben und mit der Zeit womöglich glaubensmüde und zu pragmatischen Realisten geworden sind, wir dürfen Anteil daran nehmen, was für ein Glück es bedeutet, auf der Seite des Auferstandenen zu stehen, zu ihm zu gehören, ihn zu kennen und mit ihm unterwegs zu sein. Jetzt ist Nacht, die Nacht aller Nächte, Osternacht: Ja, Christus ist auferstanden. Er ist wahrhaft auferstanden. +++