Aus verschiedenen Blickwinkeln – Martina Werner MdEP über Europa

„Die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts meistern wir nur gemeinsam in einer handlungsfähigen, souveränen Union.“

Martina Werner MdEP über Europa

In Zeiten der wachsenden Europaskepsis und des starken Rechtsrucks wird immer wieder behauptet, dass Europa sich von den Bedürfnissen seiner Bürgerinnen und Bürgern entfernt habe. Eine kürzlich veröffentlichte Befragung des Eurobarometers hat ergeben, dass 51 Prozent der Deutschen nicht zufrieden sind mit der Richtung, in die sich die Europäische Union entwickelt. Dieses besorgniserregende Stimmungsbild beschäftigt mich sehr. Gleichzeitig finden aber 78 Prozent der Deutschen auch, dass die Europäische Union eine gute Sache ist. Dieses Spannungsverhältnis zeigt, dass viele Menschen Gutes mit der Europäischen Union verbinden, aber mit ihrer praktischen Umsetzung unzufrieden sind.

Als Abgeordnete des Europäischen Parlaments bin ich eines der 751 von den Bürgerinnen und Bürgern direkt gewählten Mitglieder des Europäischen Parlaments. Als Nordhessin bin ich an erster Stelle meinen Wählerinnen und Wählern in der Region Nord- und Osthessen verpflichtet. Immer wieder wird die Frage gestellt, warum Europa denn gerade jetzt so wichtig für die Zukunft unseres Landes ist.

Der EU verdanken wir viele Errungenschaften, die das Leben auf unserem Kontinent in den letzten Jahren positiv geprägt haben. Die größte Errungenschaft der Europäischen Union ist wohl der nun mehr als 70 Jahre anhaltende Frieden. Nach dem verheerenden Schrecken des Zweiten Weltkriegs hat die wirtschaftliche Integration der ehemals verfeindeten europäischen Staaten eine Zeit des Friedens und des Wohlstands eingeleitet, wie es sie in der Geschichte unseres Kontinents noch nie gegeben hat. Die ambitionierten politischen Reformen und die immer stärkere transnationale Zusammenarbeit wurden damals getragen von dem Wunsch nach einem anhaltenden Frieden auf unserem Kontinent. Dieser Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Aus alten Feinden wurden gute Nachbarn.

Das heutige vereinte Europa ist eine der größten demokratischen Errungenschaften der Menschheitsgeschichte. Ein transnationales Parlament, in dem Abgeordnete aus 28 verschiedenen Nationen zusammenkommen und gemeinsam Gesetze beschließen, hat es auf unserem Planeten noch nie gegeben. Durch das komplexe Zusammenspiel zwischen den Regierungen der Mitgliedstaaten und den europäischen Institutionen ist etwas gelungen, das in der konfliktreichen Geschichte unseres Kontinents bislang undenkbar war.

Die vielen Vorteile, die daraus für die Bürgerinnen und Bürger Europas entstanden sind, lassen sich kaum in Zahlen fassen. Durch das Schengener Abkommen reisen Menschen seit 1995 in immer mehr europäische Staaten, ohne an der Grenze im Stau stehen zu müssen. Für viele Menschen ist es heute eine Selbstverständlichkeit, ohne Reisepass und Visum in den Ferien zu verreisen. Hinzu kommen der europäische Binnenmarkt und die vier Grundfreiheiten der Union, die es uns ermöglichen, uns überall in der Union niederzulassen, einzukaufen, zu investieren und zu arbeiten.

Die EU setzt sich auch vor Ort dafür ein, dass sich das Leben der Menschen auf unserem Kontinent zum Besseren verändert. Viele europäische Gesetze haben einen direkten Einfluss auf das tägliche Leben, durch europäische Förderprogramme werden Projekte und Infrastrukturen finanziert. Neben den weithin bekannten Förderprogrammen, wie dem Erasmus-Programm für den Austausch von Jugendlichen gibt es eine Reihe von EU-Strukturförderprogrammen, die verschiedene Organisationen und Menschen in Europa direkt unterstützen. Das EU-Förderprogramm für die Entwicklung des ländlichen Raums und der Europäische Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) haben beispielsweise sehr sichtbare Konsequenzen für das Leben in Osthessen.

Im Jahr 2018 wurden unter anderem die Gründungsförderung an der Hochschule Fulda und die technische Ausstattung von zwei Fuldaer Berufsschulen durch europäische Fördergelder unterstützt. Diese europäischen Mittel sorgen dafür, dass Studierende und Schülerinnen und Schüler in Fulda bessere Ausbildungsbedingungen bekommen und für ihre berufliche Zukunft besser qualifiziert sind.

Im Großen und im Kleinen wirkt Europa sich positiv auf das alltägliche Zusammenleben auf unserem Kontinent aus. Dennoch lässt sich nicht darüber hinwegsehen, dass die historisch gewachsene Union einige drastische Mängel hat. Das Einstimmigkeitsprinzip des Europäischen Rates sorgt dafür, dass politische Reformen von einzelnen Nationalstaaten gebremst werden können, selbst wenn sie breite Mehrheiten in der Europäischen Gemeinschaft genießen. Und das Europäische Parlament besitzt immer noch kein Initiativrecht zum Einbringen eigener Gesetzesinitiativen. Vielerorts trägt das zu dem euroskeptischen Klima bei, in dem die EU als abgehobene bürokratische Blase gesehen wird, in der überflüssige Richtlinien erlassen werden. In Nettozahler-Staaten wie Deutschland und den Niederlanden fühlt man sich oft als Zahlmeister der Union und vermehrt wird die Frage gestellt, ob sich die ganzen Zahlungen in den EU-Haushalt überhaupt lohnen. Was jedoch passiert, wenn die Skepsis gegenüber der Europäischen Union Überhand gewinnt, sieht man, wenn man nach Großbritannien schaut. Die Briten haben sich mit einer knappen Mehrheit in einer Bürgerbefragung dafür entschieden, die Europäische Union zu verlassen und sind jetzt damit konfrontiert, ihr Land und ihre Wirtschaft aus der engen Vernetzung mit der Europäischen Staatengemeinschaft zu lösen.

Die englischen Flughäfen schätzen, dass sie bei einem No-Deal-Brexit, einem ungeordneten Austritt ohne Abkommen, 20 Millionen Fluggäste jährlich aus den EU-Mitgliedstaaten verlieren könnten. Und in der Hafenstadt Dover, die zugleich auch das Tor nach Europa für den europäischen Warenhandel ist, könnte es zum Kollaps kommen. In Dover werden aktuell mehr Lkw abgefertigt als an jedem anderen europäischen Hafen. Im Falle eines harten Brexits müssten die rund 10.000 Lkw, die die Stadt jeden Tag passieren, aufwändigen Zollkontrollen unterzogen werden. Bereits jetzt horten britische Apotheken sensible Medikamente, die zu einem großen Teil von europäischen Herstellern geliefert werden, um im Fall der Fälle eine funktionierende medizinische Versorgung sicherzustellen.

Direkt im Anschluss an das Referendum spürten die Briten die Auswirkungen des angekündigten Brexits. Der Wechselkurs des britischen Pfunds sank unmittelbar nach dem Wahltag um mehrere Punkte. Es kam zu viel Empörung in Großbritannien, als die beliebte Gewürzpaste „Marmite“, die dort häufig als Brotaufstrich gegessen wird, eines Tages aus den Regalen des Supermarktriesen Tesco verschwand. Aufgrund des Wechselkurs-Abfalls in Folge des angekündigten Brexits war der Preis für die Hefepaste rapide angestiegen, was dazu führte, dass die Einzelhändler die nahezu ausschließlich in England verzehrte Paste aus dem Sortiment nahmen.

Deshalb ist es für mich sehr verständlich, dass die britische Regierung sich schwertut, das Vereinigte Königreich aus der Union zu führen. In unserer globalisierten und vernetzten Welt müssen Demokratien aber handlungsfähig bleiben, um den Fliehkräften der Zeit trotzen zu können und die Globalisierung im Sinne des Gemeinwohls gestalten zu können. Das Argument der Brexit-Anhänger war, dass eine Rückgewinnung nationaler Souveränität, die das Land an die EU verloren haben soll, alle Probleme lösen könnte. Die Briten merken nun, dass Souveränität ohne Handlungsfähigkeit kaum etwas wert ist. Die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts meistern wir nur gemeinsam in einer handlungsfähigen, souveränen Union. Ich hoffe, dass Großbritannien rechtzeitig merkt, dass Alleingänge keinen Mehrwert bringen. Denn nur gemeinsam sind wir stark, sagt die SPD-Europaabgeordnete und Spitzenkandidatin der SPD für die Europawahl Martina Werner, die wir vor dem Hintergrund der Wahl am 26. Mai um einen Gastbeitrag gebeten haben. +++

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