Verfahren vor Sozialgericht Fulda endet im Vergleich: Rentner bekommt Merkzeichen G für Gehbehinderung

Vor dem Sozialgericht Fulda ging nun ein seit 2018 anhängiger Rechtsstreit im Schwerbehindertenrecht zwischen dem Versorgungsamt Fulda und einem Rentner (B) per Vergleich zu Ende (SG Fulda, 20. März 2023 – S 6 SB 178/18). Der klagende Rentner B hatte einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 und begehrte beim Versorgungsamt Fulda zusätzlich das Merkzeichen G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) oder aG (außergewöhnliche Gehbehinderung). Beide Merkzeichen stehen für eine Stufe einer Gehbehinderung. Sie wurden ihm jedoch abgelehnt, woraufhin der Kläger wenigstens auf der Ausstellung des Merkzeichens G bestand. Gegen den folgenden Widerspruchsbescheid des Versorgungsamtes hat B dann im Oktober 2018 Klage erhoben mit dem Ziel, dass vom Versorgungsamt das Merkzeichen G festzustellen sei. Nun kam es vor der sechsten Kammer des Sozialgerichts Fulda unter der Vorsitzenden Richterin Dr. Elena Fischer-Zens zur Verhandlung, bei dem sich der Kläger selbst vertrat.

Steigerung der chronischen Erkrankung im Laufe des Lebens

Der Rentner litt in der Vergangenheit zweimal an einer Krebserkrankung, unter anderem auch an Lungenkrebs. Dazu kommen Lungenfunktionsbeeinträchtigung mit einer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung (COPD), Herzleistungsminderung und Beschwerden an der Lenden- und Brustwirbelsäule. Im Verlauf seines Lebens erhielt B aufgrund bestehender Beeinträchtigungen einen Grad der Behinderung (GdB) von 50. Im Jahr 2011 stieg der GdB dann auf 60 und wurde zugleich unbegrenzt festgesetzt. Schon damals beantragte er erfolglos die Zuteilung der Merkzeichen G oder aG. Nachdem bei ihm im Jahr 2016 die erste von zwei Krebserkrankungen festgestellt wurde, hat das Versorgungsamt auf Antrag ihn auf einen GdB von 100 hochgestuft, was bei Krebserkrankungen für zunächst fünf Jahre üblich ist. Im Jahr 2017 hatte er nochmals versucht, Merkzeichen zu beantragen.

GdB und Merkzeichen G und aG ergeben sich aus der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV)

Beim GdB wird im Volksmund immer von Prozenten gesprochen. Streng genommen handelt es sich dabei allerdings nicht um Prozente, auch wenn der höchste Wert mit GdB 100 abschließt. In der VersMedV ist aufgeführt, mit welchem Grad oder Merkzeichen eine Erkrankung bewertet wird. Dieser ist anschließend nicht eins zu eins zusammenzurechnen. Es kommt darauf an, wie die einzelnen Gesundheitsstörungen zueinanderstehen und im Gesamtumfang eine Beeinträchtigung herbeiführen. Die näheren Bestimmungen für das Merkzeichen G ergeben sich aus der VersMedV unter Teil D Nummer 1.

Mühsame Fortbewegung mit Einkäufen und taube Füße große Belastung

Zur Fortbewegung außerhalb seiner Wohnung sei er auf einen Rollator angewiesen, so B. Diesen hatte er auch zum Gericht mitgenommen. Unter Schmerzen könne er gerade noch eine Wegstrecke von 200 Metern erreichen, sagt er. Ein Lungenfacharzt bescheinigte ihm, dass das Merkzeichen G noch nicht vorliege. Zwar seien Pausen notwendig, die Fortbewegung sei aber möglich. Die Vorsitzende Richterin Fischer-Zens fragte beim Kläger nach, wie er den Weg zum Gericht gefunden hat. B sagte, dass er gegenüber am alten Schlachthof geparkt habe und dann vor dem Gerichtsgebäude eine Pause machen musste. „Also der Rollator hat den Vorteil, dass ich mich darauf abstützen kann und mein Körper dadurch hochgedrückt wird und ich besser Luft bekomme“, so B vor der sechsten Sozialgerichts-Kammer. Die Richterin wollte daraufhin wissen, wie es denn sei, wenn er sich unter Belastungen fortbewege, beispielsweise wenn Einkäufe nach Hause zu tragen sind. Auf diese Frage erzählte B, dass er vom Auto in die Wohnung immer auf der Hälfte des Weges im Treppenhaus eine Pause machen müsse. In der Wohnung selbst könne er sich auch ohne Rollator bewegen. Zum einen sei die Wohnung für den Rollator zu klein und auf der anderen Seite habe er überall in der Wohnung Sitzmöglichkeiten, die er dann nutzen könne. Eine große Belastung sei für ihn aber auch, dass seine Füße taub seien und er dann bei der Fortbewegung immer ins Straucheln komme und manchmal eine Treppenstufe nicht erreiche und dann hinfalle. Vor seiner Erkrankung sei er regelmäßig Fahrrad gefahren, bis er dann eines Tages auf das Fahrrad gestiegen sei und dabei aus dem Stand umfiel.

Versorgungsamt schlägt Merkzeichen G ab Vergleichszeitpunkt vor – Gegenangebot vom Kläger

Nachdem der Kläger die Gelegenheit nutzte, um zu seiner Klage Stellung zu nehmen, hatte das Versorgungsamt die Möglichkeit, sich zum Sachverhalt zu äußern. So ergebe sich aus der Aktenlage nicht, dass das Merkzeichen vorläge. Weiter führt der Vertreter vom Versorgungsamt aus, dass zwar ärztliche Berichte und Pflegegutachten vorlägen, diese seien aber schon alt. Es sei durch die gerichtlichen Gutachten und den vom Kläger mitgebrachten Unterlagen ersichtlich, dass auf Dauer die Prognose in Richtung einer Verschlechterung geht, gleichwohl es eigentlich noch nicht für das Merkzeichen G ausreiche und nach den neuen Gutachten man knapp vor der Erteilung eines Merkzeichens sei. Aus diesem Grund wolle das Versorgungsamt dem Rentner entgegenkommen und unterbreite einen Vergleich, wodurch das Merkzeichen G mit dem Tag des Abschlusses eines Vergleichs vor dem Gericht gilt, aber nicht rückwirkend. Prompt schlug B dem Versorgungsamt ein Gegenangebot vor, wodurch die Erteilung des Merkzeichens ab dem Zeitpunkt des ärztlichen Gutachtens aus dem Jahr 2021 zurückgehen soll, indem ihm COPD im Stadium GOLD II diagnostiziert wurde, was einem mittelgradigen Schweregrad entspreche. COPD sei bis jetzt unheilbar, mittelgradig bedeute das Merkzeichen G und seine arterielle Verschlusskrankheit spiele auch eine Rolle, so B.

Gesamtumfang aller Gesundheitsstörungen zu betrachten

Richterin Fischer-Zens wies den Kläger darauf hin, dass beim Merkzeichen G mit Blick auf die Einzelbewertung der Lungenfunktion entscheidend ist, wie sich der FEV-Wert (forcierte exspiratorische Volumen) darlegt. Dieser liegt beim Kläger gemäß den Gutachten bei 49 Prozent der Norm. Zudem ist im Juli 2022 nur eine leichte Problematik erkennbar gewesen. Und deshalb ist der Weg zum Merkzeichen G mit einem isolierten Blick auf die Lungenfunktion nur schwer möglich, so Fischer-Zens. Zudem konnte im Gericht die Notwendigkeit eines mobilen Sauerstoffgeräts beim Kläger nicht festgestellt werden, denn ein solches führte er nicht mit. Allerdings folgte Richterin Fischer-Zens im Sinne des Klägers, dass man den Fokus nicht allein auf die Lungenfunktion legen kann, sondern dass es erforderlich ist, eine Gesamtschau der Gesundheitsbeeinträchtigung heranzuziehen. So etwa beispielsweise auch die bestehenden Rückenbeschwerden des Klägers. Mit Blick auf die Rückenbeschwerden sagte B, dass diese wegen einer Krümmung der Wirbelsäule schon immer vorgelegen hätten. Allerdings habe erst der erste Tumor dazu geführt, dass über eine lange Zeit ein Nerv zwischen dem dritten und vierten Wirbel abgedrückt wurde. Die Folgen davon verspüre der Kläger noch bis heute. Deshalb könne er höchstens zwischen einer viertel bis halben Stunde stehen. Das Einzige, was es grundsätzlich gegen Schmerzen gäbe, wären Tabletten. Allerdings sei er ein Tablettengegner, wie er sagt. Einmal bekam er Tabletten und Pflaster. Dies half ihm jedoch nicht weiter. Zudem lag er in der Anfangszeit ständig im Bett.

Dem Kläger ist das Merkzeichen G wichtig, um 70 Euro mehr Sozialhilfe im Monat zu erhalten

Auf die gegenseitigen Einlassungen legte das Gericht dem Kläger nahe, den Vergleichsvorschlag des Versorgungsamts anzunehmen. Zunächst wollte der ehrenamtliche Richter Derbort vom Kläger jedoch noch wissen, welchen Beweggrund es habe, dass er das Merkzeichen G auch für die Vergangenheit haben möchte. B sagte, dass er zu seiner Rente aufstockend Grundsicherung im Alter (Viertes Kapitel des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch, Sozialhilfe nach dem SGB XII) erhalte und durch das Merkzeichen G dann 70 Euro im Monat mehr bekomme. Nach § 30 Absatz 1 Nummer 1 SGB XII erhalten Personen mit Eintritt in das Rentenalter einen Mehrbedarf in Höhe von 17 Prozent vom Regelbedarf, soweit sie das Merkzeichen G mittels Bescheids oder Ausweis nachweisen können. Für das laufende Jahr 2023 beläuft sich der Mehrbedarf bei Regelbedarfsstufe 1 auf 85,34 Euro monatlich (2022: 76,33 Euro, 2021: 75,87 Euro). Die Höhe des Mehrbedarfs fällt aber aufgrund der prozentualen Berechnung anhand der Regelbedarfsstufe bei jeder Regelbedarfsstufe anders aus.

Schriftliche Zusagen besser wie mündliche Zusagen

Die Sachbearbeitung des Sozialamtes habe ihm mündlich zugesagt, dass er diesen Mehrbedarf rückwirkend erhalte, sagte B vor dem Gericht. Richter Derbort wies den Kläger darauf hin, dass mündliche und schriftliche Zusagen unterschiedlich bewertet werden müssen und es besser ist, wenn man eine schriftliche Zusage hat, anstatt sich auf mündliche Aussagen zu verlassen. Zudem wies Derbort auf die Praktikabilität hin und dass der Vorschlag des Versorgungsamts ein großes Entgegenkommen sein dürfte. Dem Hinweis stimmte der Kläger zu. Das Versorgungsamt wies noch mal darauf hin, dass es aktuell ohne Vergleich zu keinem Merkzeichen G komme.

Merkzeichen G wird ab Vergleich erteilt

Abschließend wünschte sich der Kläger, dass ihm das Merkzeichen G unbegrenzt erteilt werde. Als Grund nannte er, dass für ihn einst der GdB 60 unbegrenzt festgesetzt wurde. Der Vertreter des Versorgungsamts konnte hierzu aber keine Zusage machen, da es nach fünf Jahren aufgrund der Heilungsbewährung-Systematik grundsätzlich bei Krebsdiagnosen von Amts wegen zu einer medizinischen Nachuntersuchung komme. Richterin Fischer-Zens wies den Kläger darauf hin, dass Betroffene grundsätzlich auch bei einer Besserung der Gesundheitssituation dazu verpflichtet sind, diese dem Versorgungsamt mitzuteilen. Auf Rückfrage des ehrenamtlichen Richters Derbort, ob das Versorgungsamt in den Verwaltungsabläufen aktuell genauso nach der Vollendung des 65. Lebensjahres so verfahre, bejahte dies der Versorgungsamtvertreter. Richterin Fischer-Zens fügte dem hinzu, dass bei einer zukünftigen Nachuntersuchung dann auch das Fortschreiten der COPD-Erkrankung zu betrachten sei. „Wir machen das“, lenkte B schließlich ein und stimmte dem Vergleich zwischen ihm und dem Versorgungsamt zu. Damit erhält er nun mit Wirkung des März 2023 das Merkzeichen G für eine Dauer von fünf Jahren, was zu einem grün-roten Ausweis mit einer Gültigkeit bis März 2027 führt. +++ brimberry