Unerwartete massive Verspätungen: Pendler und Cantus ächzen

Seit Monaten leidet man unter Mega-Projekt der Deutschen Bahn

Zug der Cantus Verkehrsgesellschaft, die wegen der Sperrung der ICE-Schnellfahrstrecke zwischen Kassel und Fulda massive Probleme hat. (Foto: Nordhessischer Verkehrsverbund)

Eine 250-Millionen-Euro-Baustelle der DB sorgt für enorme Probleme im Nahverkehr. Seit Monaten erreichen die Cantus-Bahnen ihre Zielbahnhöfe Fulda und Kassel regelmäßig massiv verspätet. Darunter leiden nicht nur die Passagiere, sondern auch das Zugpersonal. Schon 30 Minuten Verspätung, und noch immer ist der blaue Zug der Cantus Verkehrsgesellschaft nicht zu sehen. Währenddessen sind mehrere ICE und ein Güterzug durch den Bahnhof in Hünfeld gerauscht. Dann wieder einmal eine Durchsage: „Information zu RB5 von Kassel nach Fulda: Heute circa 35 Minuten später.“ So geht es seit Monaten auf der Strecke von Kassel über Bebra nach Fulda und umgekehrt. Mehrmals die Woche bauen die Nahverkehrszüge von Cantus, die die Linie RB5 bedienen, massive Verspätungen auf. 30, 35, 40, 45 Minuten. Dazu kommen regelmäßige Verspätungen von zehn bis 15 Minuten.

ICE-Strecke Kassel-Fulda: Bauarbeiten und Vollsperrung

Die Ursache sind Bauarbeiten an der Schnellfahrstrecke zwischen Kassel und Fulda, die währenddessen voll gesperrt ist. Die Strecke verbindet die beiden Städte auf direktem Weg. Etwa 30 Minuten benötigen die ICE der Deutschen Bahn (DB) für diese Distanz. Die Trasse ist Teil der 327 Kilometer langen Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Hannover und Würzburg. Sie ist eine wichtige Verkehrsachse im Netz der DB und seit Anfang 1991 in Betrieb. Auf ihr sind in Deutschland die ersten Schnellzüge gefahren. Nach mehr als 30 Jahren wurde es für die 100-prozentige Tochter der DB, die DB Netz AG, Zeit, diesen Teil ihres Streckennetzes umfassend zu erneuern. “Trotz regelmäßiger Instandhaltung war das Ende der technischen Lebensdauer der Strecke erreicht”, teilt eine Bahnsprecherin fuldainfo.de mit. “Teile des Oberbaus, Gleise, Weichen, Schwellen, Schotter und technische Anlagen wurden und werden aktuell grundlegend erneuert.”

Umleitung über Bebra: Deutlich mehr Verkehr auf Cantus-Strecke

Die Bauarbeiten an der Strecke Hannover-Würzburg hat die AG in vier Etappen unterteilt. Los ging es am 11. Juni 2019 mit dem Abschnitt zwischen der niedersächsischen Landeshauptstadt und Göttingen. Das Teilstück zwischen Fulda und Kassel bildet den Abschluss der Bauarbeiten. Dort investiert die DB 250 Millionen Euro.

Zeitplan der DB Netz AG für die Erneuerung der Hochgeschwindigkeitsstrecke Hannover-Würzburg. (Grafik: Deutsche Bahn AG)

Die Bauarbeiten auf diesem Teilstück haben am 1. April dieses Jahres begonnen – sie werden voraussichtlich am 9. Dezember angeschlossen sein. Seitdem ist dieser Streckenabschnitt gesperrt. Für die DB ist das eine große Herausforderung. ICE, die sonst auf der Schnellfahrstrecke zwischen Fulda und Kassel gefahren sind, müssen umgeleitet werden. Teilweise geschieht das über Bebra. Diese Züge verkehren somit seit Monaten auf der Strecke, die auch die Nahverkehrszüge von Cantus nutzen. Es ist also deutlich mehr los auf dieser Trasse.

So leitet die DB ihre Schnellzüge während der Bauarbeiten zwischen Fulda und Kassel um. (Grafik: Deutsche Bahn AG)

Cantus-Verspätungen meist “durch verspätete Fernzüge”

“Das Problem der hohen Verspätungen der Cantus-Züge entsteht zum größten Teil durch verspätete Fernverkehrszüge”, schreibt der NVV auf Anfrage von fuldainfo.de. “Das heißt in der Praxis: Die Züge des Nahverkehrs, auch wenn sie pünktlich unterwegs sind, werden durch verspätete Fernverkehrszüge überholt und bauen hierdurch zum Teil massive Verspätungen auf.” Dass es zu derartigen Verspätungen kommen würde, sei vor dem Beginn der Bauarbeiten nicht klar gewesen, heißt es vom NVV. Das geht auch aus Pressemitteilungen von DB, NVV und Cantus hervor, die die Unternehmen Anfang März 2023 veröffentlicht haben. “Vereinzelt fallen Züge in Tagesrandlagen aus oder Abfahrtszeiten oder Gleise verschieben sich” (DB) und “Südlich von Melsungen ändern sich nur einzelne Abfahrtszeiten um wenige Minuten, sonst bleibt die Angebotsstruktur gleich” (NVV und Cantus).

Das Fahrplankonzept für die Umleitungsstrecke über Bebra

Vor Beginn der Bauarbeiten hatten sich alle betroffenen Verkehrsunternehmen ausgetauscht und Konzepte entwickelt. “Die Kommunikation begann mit mehr als zwei Jahren Vorlauf bereits ab 2017”, sagt eine Bahnsprecherin mit Blick auf die erste Etappe der Erneuerung der Hochgeschwindigkeitsstrecke Hannover-Würzburg. “Im Ergebnis entstanden aufeinander abgestimmte Baumaßnahmen, die in den Netzfahrplan eingearbeitet waren.” Für die Umleitungsstrecke über Bebra hatten die Partner DB, NVV und Cantus bereits zur Planung des Jahresfahrplans 2023 folgendes Fahrplankonzept abgestimmt. Zwischen Kassel und Melsungen entfallen für den Zeitraum der Umleitungen die Halte der RegioTram-Linie 5. Sie werden seit dem 1. April durch die Linien RB5 und RE5 bedient. Außerdem seien vor Beginn der Baumaßnahmen Dispositionskonzepte und das Vorgehen bei Störungen auf den Umleitungsstrecken abgestimmt worden, schreibt der NVV. Auch dabei sei man nicht von massiven Verspätungen ausgegangen.

NVV: Bahn hat für Cantus keine Maßnahmen angeboten, um Verspätungen im Rahmen zu halten

Wie bekannt, ist es anders gekommen. Und das hat zu Redebedarf geführt. “Cantus und der NVV haben die DB Netz AG mehrfach darauf hingewiesen, dass es nicht sein kann, dass bei Störungen auf den Umleitungsstrecken nur noch Fern- und Güterzüge verkehren und der Nahverkehr zum Teil zum Erliegen kommt”, teilt der NVV mit. “Gerade im Hinblick auf die Fahrgäste des Nahverkehrs muss die Disposition so aussehen, dass alle Verkehrsarten gleichmäßig berücksichtigt und nicht einzelne Marktsegmente bevorzugt werden.“ Leider habe die DB für die Cantus Verkehrsgesellschaft keine Maßnahmen angeboten, um die Verspätungen im Rahmen zu halten, schreibt der NVV. “Die DB Netz AG hat in ihren Antworten immer wieder darauf verwiesen, dass man sich bei der Disposition an die entsprechenden Vorgaben der Richtlinie 420 zu halten hat. Diese Richtlinie ist Bestandteil der Netznutzungsbedingungen und kann nicht, auch nicht für den Baukorridor Fulda – Kassel, außer Kraft gesetzt werden.” Von der DB heißt es dazu: “Die Disponierung aller Züge auf dem Netz wird gleichberechtigt und nach transparenten Regeln umgesetzt.” Und weiter: “Dadurch, dass die Schnellfahrstrecke abschnittsweise voll gesperrt ist und Züge umgeleitet werden müssen, steht jedoch auch auf den Umleitungsstrecken weniger Kapazität für den Zugverkehr zur Verfügung.” Bei einer so komplexen Baumaßnahme ließen sich Fahrzeitverlängerungen und Ausfälle leider nicht ganz vermeiden.

Kaum Zeit für Reinigung, stark belastetes Cantus-Personal

Es sind jedoch nicht ausschließlich die häufigen Verspätungen, die Cantus, den NVV und deren Kunden plagen, sondern auch deren unmittelbare Folgen. Den Cantus-Mitarbeitern fehlt oft die Zeit, die Züge auf Vordermann zu bringen, bevor diese wieder über die Gleise rollen. “Das Fahrplankonzept hat die Zeiten für Serviceleistungen bei Cantus stark eingeschränkt”, schreibt der NVV. Zu diesen Serviceleistungen zählen die Reinigung, WC-Ver- und Entsorgung, kleine Reparaturarbeiten und die Wartung der Vertriebstechnik. “Durch zusätzliche Verspätungen sind diese Leistungen zum Teil gar nicht mehr möglich.” “Darüber hinaus haben die Verspätungen Auswirkungen auf die Personalplanung”, teilt uns der Verkehrsverbund mit. “Teilweise können Pausen nicht eingehalten beziehungsweise müssen umdisponiert werden. Oder es verlängern sich Einsatzzeiten, wodurch Ruhezeiten unterschritten oder ebenfalls umgeplant werden müssen.” Das führe zu einer immer stärkeren Belastung des Personals und zusätzlichen Stress.

Immerhin: Es gibt einen Lichtblick. Die Erneuerungen der Schnellfahrstrecke zwischen Fulda und Kassel scheinen planmäßig voranzugehen. Stand jetzt werden im Laufe des Dezembers keine ICE-Umleitungen mehr nötig sein. Bedeutet: Weniger Betrieb auf der Cantus-Strecke und wieder deutlich weniger unpünktliche Züge der Linie RB5. +++ sascha-pascal schimmel

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