Nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan gibt sich die radikal-islamistische Gruppierung gemäßigt. Ein Taliban-Sprecher verbreitete am Montag ein Video aus den Straßen von Kabul, in dem sich Männer wohlwollend zum Einmarsch äußern. Die Menschen, die am Flughafen von Kabul vergeblich versucht hatten, das Land zu verlassen, könnten nach Hause zurückkehren, hieß es in einer weiteren Erklärung der Taliban. Zivilisten würde nichts angehabt werden, ebenso wie dem Botschaftspersonal. Am Flughafen spielten sich chaotische Szenen ab.
Hunderte versuchten, eines der letzten Flugzeuge aus der afghanischen Hauptstadt zu besteigen, das Rollfeld war voll von Menschen. Rund 6.000 US-Soldaten sollen noch am Airport sein, um diesen „zu sichern“, wie es hieß. Diese gaben Warnschüsse ab, um die Menschen zurückzutreiben. Der arabische Nachrichtensender Al-Jazeera berichtete von Toten am Flughafen. Es sei aber vollkommen unklar, ob die Menschen beispielsweise durch abgegebene Schüsse oder durch eine Massenpanik ums Leben gekommen seien. Unterdessen ist gegen 7 Uhr deutscher Zeit aus Wunstorf bei Hannover ein Militärtransporter vom Typ A-400M der Bundeswehr nach Kabul abgehoben, um „zu Schützende“ auszufliegen, wie es hieß. Offenbar starte der Flug verspätet, denn das Verteidigungsministerium hatte am Sonntagabend noch mitgeteilt, „Transportflugzeuge“ würden „heute Nacht“ starten. Die Lage im weiteren Stadtgebiet von Kabul war unterdessen am Montag relativ ruhig. Viele Läden sind geschlossen, Taliban haben die Kontrolle an den zahlreichen „Checkpoints“ übernommen. Eine Al-Jazeera-Reporterin sagte, sie sei in der Hotel-Lobby von Taliban mit Maschinenpistolen freundlich gegrüßt worden, die Männer seien dann weitergegangen. Später am Tag soll es eine Pressekonferenz der neuen Machthaber geben. Der bisherige Präsident Aschraf Ghani hatte das Land am Sonntag fluchtartig verlassen.
Deutsche Botschaft in Kabul warnte vergeblich vor Gefährdung
Die deutsche Botschaft in Kabul warnte das Auswärtige Amt offenbar wochenlang vergeblich vor einer möglichen Gefährdung ihres Personals. Der stellvertretende deutsche Botschafter Jan Hendrik van Thiel schrieb in seinem Lagebericht am Freitag, „dass den dringenden Appellen der Botschaft über längere Zeit erst in dieser Woche Abhilfe geschaffen“ worden sei, berichtet das ARD-Hauptstadtstudio. Darüber hinaus betonte der Diplomat: „Wenn das an irgendeiner Stelle diesmal schief gehen sollte, so wäre dies vermeidbar gewesen“. Die Formulierungen werfen weitere Fragen im Hinblick auf das Krisenmanagement der Bundesregierung auf. Das Personal der Botschaft wurde gestern auf den Flughafen in Kabul verlegt, das eigentliche Botschaftsgebäude geschlossen. Am Freitag hatte Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) betont, man habe sich seit Wochen auf diese Situation vorbereitet. Wie das ARD-Hauptstadtstudio weiter unter Berufung auf „Sicherheitskreise“ berichtet , wurde aber erst in der vergangenen Woche darüber gesprochen, unter welchen Bedingungen ein A400M-Transportflugzeug der Bundeswehr für eine Evakuierung zur Verfügung gestellt werden könnte. Die Deutsche Botschaft teilte am Montag mit, an Flügen zur Evakuierung deutscher Staatsbürger und einheimischer Mitarbeiter werde gearbeitet. „Wir raten Ihnen, nicht zum Flughafen zu gehen, bevor Sie informiert sind. Begeben Sie sich erst zum Flughafen, nachdem wir Sie telefonisch kontaktiert haben.“
Videos zeigen dramatische Szenen am Flughafen von Kabul
Nachdem die Taliban in Afghanistan die Macht übernommen haben, haben offenbar über tausend Menschen versucht, am Flughafen in Kabul einen Evakuierungsflug zu erwischen. Auf dramatischen Bildern war zu sehen, wie Menschen neben einer rollenden Boeing C-17 des US-Militärs herlaufen und auf die Tragflächen klettern. Auf weiteren Videos ist zu sehen, wie Apache-Kampfhubschrauber vor einem Militärtransporter herfliegen, um die Menschen zu vertreiben. Ein ebenfalls in sozialen Netzwerken verbreitetes Video soll zeigen, wie Menschen von einem startenden Flugzeug herunterfallen. Die Echtheit der Videos konnte zunächst nicht überprüft werden. Das US-Militär räumte jedoch ein, dass am Flughafen Warnschüsse abgegeben worden seien. Aus Deutschland sind unterdessen ebenfalls drei Maschinen unterwegs, um Menschen aus Afghanistan auszufliegen. Eines der Flugzeuge setzte am Mittag zur Zwischenlandung in Baku in Aserbaidschan an.
Berliner Politik von Chaos in Afghanistan erschüttert
Nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan und den chaotischen Szenen vom Kabuler Flughafen hat sich die Berliner Politik erschüttert gezeigt. Die Grünen-Bundestagsfraktion forderte eine Sondersitzung des für die Geheimdienste zuständigen Parlamentarischen Kontrollgremiums. „Wir brauchen Klarheit, welche Informationen zur Lage in Afghanistan der Bundesregierung vorlagen, und ob man eigene Erkenntnisse hatte oder sich nur auf Infos anderer Dienste verlassen hat“, sagte Grünen-Fraktionsvize Konstantin von Notz dem „Handelsblatt“. „Die Lage in Afghanistan ist ein einziges Fiasko.“ Die Linke hat die Rückeroberung Afghanistans durch die Taliban nach dem Truppenrückzug ein „historisches Fiasko“ genannt und ebenfalls Konsequenzen gefordert. „Mehr Scheitern nach 20 Jahren bewaffneten Großeinsatz des Westens und der Bundeswehr ist schwer vorstellbar“, sagte die Parteivorsitzende Susanne Hennig-Wellsow den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Nun müsse rasch Solidarität gezeigt werden. „Es ist moralisch und ethisch zwingend geboten, dass die Bundesregierung jetzt die Leute aus Kabul holt. Jetzt geht es um eine unbürokratische Massenevakuierung.“ Hart attackierte die Linken-Chefin den Bundesaußenminister: „Heiko Maas trägt mit die Verantwortung für alle jene, die es jetzt nicht mehr schaffen sich und ihre Familien zu retten.“ Selbst CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak fand deutliche Worte zur Lage in Afghanistan. „Das was wir dort erleben ist ja ganz offensichtlich ein Desaster“, sagte er RTL/ntv. „Die Frage über den Truppenabzug und wie er organisiert wurde, und die Frage zu welcher Zeit, zeigt sich, dass das eine absolute Katastrophe ist.“ Er kritisierte vor allem die offensichtlich zu spät gestartete Rettungsaktion und die Fehleinschätzung, wie schnell die Taliban vorrücken konnten. „Ich bin auch schockiert über die Fehleinschätzung, die es da offensichtlich gegeben hat, nicht nur vom auswärtigem Amt, sondern bei amerikanischen und anderen Geheimdiensten.“ Ziemiak machte vor allem deutlich, dass man ein drohendes Flüchtlingsdrama verhindern müsse. „Für uns ist auch klar, 2015 darf sich nicht wiederholen. Wir werden die Frage Afghanistan nicht durch Migration nach Deutschland lösen können.“ Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zeigte sich im Bundesvorstand ebenfalls erschüttert. „Wir müssen mit den Nachbarländern zusammenarbeiten, ohne die USA könnten wir einen solchen Einsatz nicht machen“, sagte sie nach Teilnehmerangaben am Montag. Jetzt müssten „so viele Menschen wie möglich“ in Sicherheit gebracht werden. +++
Hinterlasse jetzt einen Kommentar