Seit drei Jahren ist Eichenzell eine Smart City-Kommune

„Wir sind stolz darauf, Smart City-Kommune zu sein“

Smart City Eichenzell-Projektverantwortliche: v.l.: Nico Schleicher, Bürgermeister Johannes Rothmund und Christopher Müller Foto: Gemeinde Eichenzell

„Miteinander, gemeinwohlorientiert, nachhaltig und smart.“ Diesen Eigenschaften hat sich die Gemeinde Eichenzell verschrieben. Seit September 2020 trägt sie den Titel „Smart City-Kommune“. Ziel ist es, die Lebensqualität der Bürgerinnen und Bürger durch digitale Maßnahmen zu steigern. Eichenzell leistet in vielen Bereichen Pionierarbeit und ist schon heute wichtiger Ratgeber für andere Kommunen im ländlichen Raum. Doch was ist seit dem Smart City-Startschuss passiert? Und wo geht die Reise noch hin? Im Folgenden lesen Sie ein Interview mit den Verantwortlichen des Smart City-Projektes um Bürgermeister Johannes Rothmund, dieses unserer Redaktion zur Veröffentlichung zugänglich gemacht wurde.

Was ist die Grundvoraussetzung für eine Smart City-Kommune?

Bürgermeister Johannes Rothmund: Beim Smart City-Projekt geht es um die digitale Transformation von Kommunen in Deutschland und weltweit. Dafür benötigen sie zum einen eine langfristige und individuelle Strategie, passende Infrastrukturen und qualifiziertes Fachpersonal. Essenziell sind auch der Wissenstransfer der Smart Cities untereinander und die Zusammenarbeit mit regionalen Partnern. Vor allem aber braucht es Mut, Weitblick und Offenheit gegenüber neuen Technologien und Veränderungen. Ganz wichtig ist dabei auch das Thema „Teilhabe“. Denn Smart City, das sind wir alle. Ob in Eichenzell oder weltweit: Wir Smart Cities sind darauf angewiesen, dass die kommunalen Vertreter, die Bevölkerung und alle übrigen Akteure diesen Veränderungsprozess aktiv begleiten und mitgestalten.

Und was bedeutet Smart City für eine Kommune wie Eichenzell konkret?

Bürgermeister Johannes Rothmund: Digitalisierung ist mittlerweile ein unverzichtbarer Bestandteil in unserem Alltag und wird in Zukunft noch mehr Raum einnehmen. Wir in Eichenzell wollen uns von dieser Entwicklung nicht überrollen lassen, sondern sie schon heute für unsere moderne, lebenswerte und attraktive Gemeinde aktiv nutzen. Deshalb haben wir uns mit dem Smart City-Projekt in eine weltweite Bewegung von Kommunen eingereiht, die Digitalisierung als Chance begreifen. Das Smart City Projekt versetzt uns in die Lage, die zukünftigen Bedarfe unserer Gemeinde frühzeitig zu erkennen und entsprechende Maßnahmen zu entwickeln. Dabei betreten wir technisch oft Neuland, schöpfen aber auch enormes Potential für die Herausforderungen einer Gemeinde wie Eichenzell aus.

Mit welchen Fragestellungen beschäftigen Sie sich?

Bürgermeister Johannes Rothmund: Unsere Leitfrage ist immer: Wo kann Digitalisierung den Alltag unserer Bevölkerung verbessern? Daher suchen wir in sechs Bereichen nach zukunftsfähigen Lösungen: Gesundheit und Pflege; Wohnen, Leben und Stadtentwicklung; Umwelt und Energie; Wirtschaft, Industrie und Handel; Mobilität sowie Verkehr. Dabei orientieren wir uns einerseits an den Herausforderungen unserer Zeit – beispielsweise Inklusion, Ärztemangel oder den zunehmenden Hochwasser- und Starkregenereignissen – und andererseits an den ortsspezifischen Bedürfnissen der Bürgerschaft. In Bürgerbeteiligungsverfahren hat sich zum Beispiel gezeigt, dass sich die Menschen in Eichenzell vor allem Orte für Austausch und digitales Lernen wünschen. Daher planen wir einen smarten Begegnungsraum und Mobilitätsstationen, wo Menschen gemeinsam lernen, sich treffen oder Verkehrsmittel teilen können.

Und welchen Nutzen hat der normale Bürger?

Christopher Müller: Smart City ist ein langfristig angelegter Prozess. Zunächst scheint der Nutzen für den Durchschnittbürger nicht sofort erkennbar zu sein, aber er ist nachhaltig und hilft ihm im Alltag. Einige Beispiele: Von unseren Medienbildungsprojekten profitieren aktuell vor allem Senioren und Schüler. Unsere Eichenzell App wiederum richtet sich an alle Bürgerinnen und Bürger, ebenso wie der geplante bedarfsorientierte On-Demand-Verkehr, der schlecht erreichbare Ortsteile anbinden soll. Projekte wie der Aufbau einer gemeindeeigenen IT-Infrastruktur mit Sensoren an Straßenlaternen, Brücken und Bäumen schlagen im Ernstfall Alarm: Bei Hochwasser wird die Gemeinde über ein Starkregenfrühwarnsystem Bürger und Einsatzkräfte schneller informieren können, bei Trockenheit kann sie passgenau bewässern.

Wie wichtig ist der Smart City-Gedanke für die Vereine?

Anne Jana: Vereine bilden das Rückgrat unserer Gesellschaft. Sie sind Treffpunkte und bringen generationenübergreifend Menschen zusammen. Damit sind sie für die Smart City-Idee ideale Partner und Botschafter. Leider engagieren sich aber immer weniger Menschen ehrenamtlich. Das ist ein bundesweiter Trend. Deshalb unterstützen wir in Eichenzell unsere Vereine mit Smart City. In der Eichenzell App findet sich ein zentraler Veranstaltungskalender für die Vereine. Sie können dort Veranstaltungen, Feste und Jubiläen eintragen und allen Bürgerinnen und Bürgern zugänglich machen. Im nächsten Schritt planen wir für jeden Verein ein eigenes Profil mit wichtigen Daten und Kontaktinfos, quasi eine eigene kleine Webseite. Damit wollen wir eine lebendige Bürgerplattform schaffen und für die Attraktivität unserer Vereine werben.

Ist das Thema Smart City nicht eher etwas für Großstädte oder Ballungszentren?

Christopher Müller: Immer noch lebt ein großer Teil der Bevölkerung in Deutschland außerhalb von Großstädten. Smart City-Projekte also nur auf Ballungszentren zu begrenzen, wäre fatal und würde den ländlichen Raum von der Digitalisierung abschneiden. Eichenzell profitiert von den innovativen Projekten, die durch Smart City entstehen. Unser Wissen geben wir an andere Kommunen weiter. Im Austausch mit anderen Kommunen innerhalb des Smart City-Projekts entsteht somit ein Verbund für spezielle Lösungen im ländlichen Bereich.

Hat Smart City auch einen Mehrwert für unsere Gesellschaft?

Christopher Müller: Definitiv. Digitalisierung bedeutet Innovation und Wettbewerbsfähigkeit. Smart City ist ein wichtiger Teil davon. Je früher sich Kommunen mit diesem beherrschenden Zukunftsthema beschäftigen, desto besser werden sie die zukünftigen Herausforderungen erfolgreich meistern können. Für den Einzelnen können digitale Lösungen den Alltag erleichtern, ihn nachhaltiger und ressourcenschonender gestalten und so die Lebensqualität insgesamt verbessern. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass wir Wissen und Technik in die Breite tragen und alle, seien es „Digital Natives“ oder analog aufgewachsene Menschen, bei der digitalen Stadtentwicklung mitnehmen. Wir brauchen nicht nur die Smart City, sondern auch die smarten Bürgerinnen und Bürger.

Wie digital muss eine Kommune wie Eichenzell denn sein?

Nico Schleicher: So digital wie möglich, wenn es um eine leistungsfähige IT-Infrastruktur, Datensicherheit, barrierefreien Wissenszugang und den Zugang zu Verwaltungsdienstleistungen geht. Nur so digital wie nötig, um den Menschen nicht aus dem Blick zu verlieren. Denn Digitalisierung kann nur ein Baustein auf dem Weg zur Smart City sein. Wir verfolgen kein technikgetriebenes Leitbild, das den Menschen in den Hintergrund drängt, ganz im Gegenteil. Auch eine smarte Gemeinde wird weiterhin von „analogen“ Werten wie Solidarität, Toleranz, Gemeinschaft und Hilfsbereitschaft getragen werden. Bei unseren Projekten setzen wir daher immer auch auf persönliche Begegnung und achten darauf, möglichst niemanden auszuschließen. Denn soziale Teilhabe beruht heute verstärkt auf digitaler Inklusion. Mit unserem flächendeckenden Glasfasernetz haben wir in Eichenzell bereits vor Jahren etwas geschaffen, was sich viele Menschen für ganz Deutschland wünschen: uneingeschränkten Zugang ins Internet, ohne geographische Diskriminierung. Darauf baut Smart City.

Die Eigenschaften nachhaltig und innovativ fallen immer wieder im Zusammenhang mit Smart City – warum?

Nico Schleicher: Als Smart City probieren wir Ideen aus, die sich so bislang noch nicht etabliert haben. Zugleich müssen sie nachhaltig und modellhaft sein. Das heißt: Sie müssen einen langfristigen Nutzen haben und sich auf andere Kommunen übertragen lassen. Beide vom Bund als verbindlich vorgegebenen Zielvorgaben erfüllen beispielsweise unsere europaweit einzigartigen smarten Straßenlaternen an unserer Teststrecke „Am Märzrasen“ in Eichenzell-Welkers. Sie sollen unter anderem über Sensoren Verkehrs- und Umweltdaten liefern und werden über eine neu entwickelte virtuelle Glasfasertechnik drahtlos vernetzt. Nachhaltig daran ist, dass wir für den Aufbau dieser neuen digitalen Infrastruktur die bestehende Straßenbeleuchtungslandschaft nutzen und die Beleuchtung zukünftig bedarfsgerecht und ressourcenschonend steuern können. Neben der Verpflichtung zu Pioniergeist beinhalten die Zielvorgaben des Bundes auch ausdrücklich eine „Lizenz zum Scheitern“. Denn ob eine neue Maßnahme langfristig erfolgreich ist, erweist sich oft erst nach vielen Testläufen. Manches Mal muss nachjustiert oder ein Vorhaben sogar aufgegeben werden.

Es ist Zeit für eine Bilanz: Was hat sich durch den Smart City-Gedanken in Eichenzell verändert?

Anne Jana: Smart City ist ein Prozess. Bereits in der Strategiephase haben wir erste Projekte erfolgreich umgesetzt, seit einem Jahr sind wir nun in der Umsetzungsphase. Die Eichenzeller Bürger hatten also schon etwas Zeit, sich mit dem Smart City-Gedanken vertraut zu machen. Zwar ist Digitalisierung, besonders wenn es um technisch komplexe Projekte geht, noch immer nicht für jeden richtig greifbar, aber wir spüren Interesse und Fortschritt. Leichter nachvollziehbare Projekte, wie unser Starkregenfrühwarnsystem in Kooperation mit dem Landkreis Fulda oder die Eichenzell App, werden sehr positiv aufgenommen. Auch unsere Digitalisierungskurse, die wir gemeinsam mit der Volkshochschule Fulda anbieten, sind immer ausgebucht. Seitdem wir diese Formate für alle Altersgruppen geöffnet haben, melden sich sogar Berufstätige in der Altersgruppe 50+. Das zeigt, wie groß der Bedarf an digitalen Kompetenzen tatsächlich ist, und auch die zunehmende Bereitschaft, diese Wissenslücken aktiv zu schließen.

Es gibt immer auch mal wieder Kritik: Warum? Und wie gehen Sie damit um?

Bürgermeister Johannes Rothmund: Kritik gibt es – wie bei allen anderen Smart Cities auch – immer wieder und aus ganz unterschiedlichen Gründen. Einigen Menschen geht das Projekt nicht schnell genug, andere hinterfragen den Sinn bestimmter Maßnahmen, wieder andere weisen auf Fehler im Projektmanagement hin oder fühlen sich als Zielgruppe zu wenig mitgedacht. Über all diese Kritik, sofern sie sachlich und konstruktiv ist, freuen wir uns. Denn sie zeigt, dass Menschen sich mit Smart City beschäftigen. Sie spornt uns auch an, besser zu werden – wenn wir merken, dass uns Fehler unterlaufen sind, unsere Vorhaben Bedenken auslösen oder noch nicht ausreichend verstanden werden. Grundsätzlich gilt aber auch: Smart City Eichenzell ist ein Stadtentwicklungsprojekt im Auftrag der Bundesregierung und der Gemeinde, es soll Dinge verändern. Damit tun sich viele Menschen naturgemäß schwer. Smart City ist außerdem ein Großprojekt mit einerseits verpflichtenden konkreten Vorgaben der Fördermittelgeber und andererseits vielen Beteiligten mit unterschiedlichen Visionen für die Zukunft Eichenzells, die sich nicht alle unter einen Hut bringen lassen. Dieses Spannungsverhältnis können wir nicht auflösen. Wir planen dennoch zukünftig transparenter und verständlicher zu kommunizieren, noch kleinteiliger alle Akteure und Experten in den Prozess einzubinden, die Bürger mehr zu Wort kommen zu lassen und durch neue Veranstaltungsformate Digitalisierung erfahrbarer zu machen. So hoffen wir, langfristig alle Menschen in Eichenzell begeistern und von der Smart City-Idee überzeugen zu können.

Neben Eichenzell sind mit Darmstadt und Kassel zwei Großstädte hessische Smart City-Kommunen. Wie kam Eichenzell zu dieser privilegierten Stellung im Land?

Bürgermeister Johannes Rothmund: Wir sind tatsächlich sehr stolz darauf, Smart City-Kommune zu sein. Damit schreiben wir eine Tradition fort. Denn bereits seit vielen Jahren machen sich Menschen in Eichenzell Gedanken darüber, wie sie die Gemeinde zukunftsfähig digital gestalten können. Schon vor zehn Jahren wurde damit begonnen, ein eigenes Glasfasernetz für schnelles Internet aufzubauen. Dieser Umstand war für unsere Bewerbung ein großer Pluspunkt, genauso wie die bürgernahen Projektideen. Eichenzell hatte also von Anfang an gute Voraussetzungen dafür, Smart City zu werden. Und den nötigen Mut und Innovationsgeist, denn die finden sich im ländlichen Raum genauso wie in der Großstadt. +++ pm