Klartext mit Radtke: Wirtschaftliche Entwicklung geht dramatisch zurück

Die Angst geht um

Ob man sich nun für Wirtschaft und Politik interessiert oder nicht. Lesen sollte man diese Ausführungen in jedem Fall, da auch das eigene Leben von den derzeitigen Entwicklungen stark tangiert wird. Ein Forscher, der Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann, bescheinigt den Deutschen eine posttraumatische Belastungsstörung. Corona, Krieg, Inflation, Klimawandel. Diese Krisen nehmen kein Ende. Daher attestiert er den Deutschen einen Zustand akuter Erschöpfung. Ein erheblicher Wohlstandsverlust wird für jeden mehr und mehr spürbar und zur Belastung!

Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht ein anderer Verband, Wirtschaftsboss oder Unternehmer vor den Gefahren einer Deindustrialisierung warnt. Warum ist das so? Weil zwischenzeitlich alle Zahlen und Fakten so offensichtlich darauf hinweisen, dass wir in Deutschland in eine immer deutlichere Rezession hineinlaufen. So titelte zum Beispiel ein Boulevardblatt: „Wirtschafts-Aufstand gegen die Ampel“. Oder „Sturm braut sich über Deutschland zusammen.“, „Deutsche Wirtschaft stürzt ab.“ Eine andere Zeitung schreibt: „Viele Unternehmen planen bereits Wegzug aus Deutschland.“, „Generalabrechnung mit dem Standort Deutschland.“

Zu den Mahnern gehören ifo-Chef Clemens Fuest, der renommierte Autor Matthew Karnitschnig, Toralf Haag vom schwäbischen Anlagenbauer Voith, Marcel Fratzscher, Chef des deutschen Wirtschaftsinstituts DIW, Klaus Rosenfeld, der Vorstandsvorsitzende des Automobilzulieferers Schaeffler, Top-Manager Eckhard Cordes (ehemals Mercedes), Dr. Wolfgang Reitzle und auch Oliver Zipse von BMW, auch Inhaber von privaten Unternehmen wie Hermann Bühlbecker, der Lambertz zum Weltmarktführer machte. Die Aussagen – nicht nur dieser hier zitierten Verbands- und Wirtschaftsbosse – sind deutlich und unmissverständlich. Auch der Bundesverband „Der Mittelstand“ (BVMW) erklärt in deutlichen Worten: „Man hört manchmal von einer schleichenden Deindustrialisierung – nun, sie ist nicht mehr nur schleichend“, sagt Hans-Jürgen Völz, Chefvolkswirt des BVMW. Ein Verband, der sich für den deutschen Mittelstand einsetzt, die Tausenden von kleinen und mittleren Unternehmen, die das Rückgrat der Wirtschaft des Landes bilden.

Unternehmen wie BASF, die bisher maßgeblich zu dem Wohlergehen der deutschen Wirtschaft beigetragen haben, ziehen nun einschneidende Konsequenzen aus den Schwächen des Standortes Deutschland. Sie bauen in Deutschland massiv Stellen ab und verlagern weiter nach China. Vor drei Jahren noch undenkbar. Aber wer will es BASF verübeln? Der Strompreis in Deutschland liegt bei 0,48 Cent, in China bei 0,08 Cent – also sechs Mal so hoch! Auch Linde und Viessmann sehen zu, wie sie auf Dauer profitabel bleiben und entscheiden sich teilweise gegen Deutschland als Standort. Da ist zunächst einmal die Frage, wie es zu einer solchen Entwicklung kommen konnte. Konstatieren muss man in diesem Zusammenhang, dass diese schlechte Verfassung und die äußerst ungünstigen Rahmenbedingungen in unserem Land nicht vom Himmel gefallen sind und nur bedingt mit dem Krieg in der Ukraine zu tun haben. Manches, vielleicht das Meiste war vorhersehbar, kalkulierbar, geradezu absehbar.

Deutschland hat sich nach dem Weltkrieg in unbeschreiblicher Art und Weise entwickelt, das sogenannte Wirtschaftswunder nahm seinen Lauf. Selbstverständlich: auch früher gab es Krisen. Doch das Land der Dichter und Denker, der Ingenieure und Erfinder konnte sich stets aus diesen angemessen befreien. Der letzte Bundeskanzler, der wirtschaftlich die Notbremse zog, war Gerhard Schröder. Erinnern wir uns. Wie stellte sich die Situation dar? Hohe Arbeitslosigkeit, Krise der sogenannten neuen Märkte und die Forderung aus Brüssel, die gesamtstaatliche Schuldenquote unter die vereinbarte „Drei-Prozent-Marke“ zu drücken, schränkten den politischen Handlungsspielraum ein. Mit „Mut zum Frieden – Mut zur Veränderung“ den Reformstau beenden. Dies war das erklärte Ziel von Schröder. Der wirtschaftlichen Stagnation sollte durch eine aktive Arbeitsmarktpolitik Einhalt geboten werden. Unter dem Synonym Agenda 2010 wurden etliche wirtschaftspolitische Entscheidungen getroffen, ein Konzept zur Reform des deutschen Sozialsystems und des Arbeitsmarktes umgesetzt, die dem Sozialdemokraten schließlich das Amt des Bundeskanzlers kosteten. Und ihn bei den eigenen Genossen in Ungnade fielen ließen. Angela Merkel profitierte die nächsten acht Jahre von diesen Reformen. Und in den nächsten acht Jahren folgte eher ein wirtschaftspolitischer Stillstand.

Die Versäumnisse im Einzelnen:

  • Die seit Ende der 80-er Jahre proklamierte Digitalisierung wurde nicht vorangetrieben. In der Corona Zeit arbeiteten die Gesundheitsämter mit Faxgeräten.
  • Schnelles Internet. Seit Jahren angekündigt, bisher kaum umgesetzt. In ländlichen Regionen sind es teilweise nur 3 Mbit/s. Um eine Datei mit 1 GB herunterzuladen benötigen Sie dafür 45 lange Minuten!
  • Bildungssystem, Schulsystem. Durch Pisa Studien ist belegt: Deutschland liegt neuerdings auf den letzten Plätzen.
  • Atomkraft – wir schalten rigoros ab. Beziehen dann Strom aus den an der Grenze zu Deutschland befindlichen Atomkraftwerken in Frankreich, Polen, Tschechien.
  • Abhängigkeiten auf dem Sektor Energie. Vornehmlich bei Öl und Gas. Durch Nordstream haben wir zu sehr auf die Verlässlichkeit Russlands gehofft.
  • Die Inflation ist vornehmlich durch die jahrelange Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank entstanden. Vor dieser hatten viele, unter anderem namhafte Präsidenten der Bundesbank laut gewarnt. Sie beträgt heute mindestens 20 Prozent, eine Vermögensvernichtung erster Güte.
  • Hohe Zinsen. Auch die sind eine Folgeerscheinung der lockeren Geldpolitik der EZB über viele Jahre. Finanzierungen auf dem privaten wie industriellen Sektor werden immer schwieriger, kostspieliger.
  • Abschaffung der Wehrpflicht. Wie sich jetzt herausstellt ein eklatanter Fehler. Doch ebenso die ausbleibenden Investitionen in die Bundeswehr, die nun nachgeholt werden müssen.
  • Genehmigungsverfahren und Bürokratie. Seit Jahren sind die Probleme bekannt. Seit Jahren spricht man von Bürokratieabbau und schnelleren Genehmigungsverfahren. Kaum etwas wurde verbessert.
  • Ausgabenpolitik und Steuerverschwendung. Zwischenzeitlich gibt es mehr Transfergeldempfänger als Einzahlende. Länder werden mit Subventionen und Entwicklungshilfe unterstützt, während hier die Mittel für dringend notwendige Reformen nicht vorhanden sind.
  • Seit Jahren wird über eine Reform des Steuersystems gesprochen. Friedrich Merz machte den Bierdeckel Vorschlag. Prof. Paul Kirchhof forderte ein neues Steuersystem. Bis heute: NICHTS.
  • Seit Jahren sind Straßen, Autobahnen und Brücken in einem teilweise morbiden Zustand. Und das Landesweit. Ein erheblicher Faktor für das Funktionieren des Wirtschaftsstandortes Deutschland.
  • Deutsche Bahn. Eine Katastrophe mit Ansage. Doch es wurde seit Jahrzehnten die Verlagerung von der Straße auf die Schiene gefordert.
  • Viele Technologien und technische Entwicklungen sind buchstäblich verschlafen worden. Ob Gentechnik, Solar, Wasserstoff. In kaum einer Branche sind wir Taktgeber oder Vorreiter.
  • Gescheiterte Energiepolitik insgesamt. Es geht hier nur noch um Ideologie, nicht um Logik, Verstand und Praktikabilität.
  • Aufblähung des Bundestages. Aber auch des gesamten Beamtenapparates. Alle Ministerien wachsen in einer nicht mehr nachvollziehbaren Weise. Eine Unverantwortliche Verschwendung von Steuergeldern.
  • Kriminalität. Clankriminalität und Kriminalität begangen von Flüchtlingen, die allesamt bereits ein langes Vorstrafenregister haben. Beides wird nicht nachhaltig und konsequent bekämpft. Herbert Reul, Innenminister von Nordrhein-Westfalen sagt zu Clankriminalität: „Wir haben 30 Jahre im Tiefschlaf gelegen.“
  • Ähnliches gilt für die Cyber-Kriminalität, die einen immer größeren Einfluss erhält und deren Gefahren immer noch unterschätzt werden.
  • Immer stärkere Subvention von finanziell Schwachen auf Kosten der Leistungsträger. Dadurch sinkende Motivation für Leistungsträger.
  • Fehlende überzeugende Migrationspolitik, vor allem in den Arbeitsmarkt.

Eine lange Liste von Fehlentwicklungen. Sicher nicht alle. Einer Partei allein die Schuld zu geben, ist sicher nicht fair. Alle haben ihren Anteil daran. Die einen mehr, die anderen weniger. Spätestens nach dem Bau des Berliner Flughafens musste man doch nachdenklich werden, was aus dem Wirtschaftsstandort Deutschland geworden ist. 14 Jahre Bauzeit und 700 Prozent Kostenüberschreitung sprechen für sich. Das war nicht einmal das einzige Großprojekt, das in die Kritik geraten ist.

Deutschland befindet sich in einer kontinuierlichen und gefährlichen Abwärtsspirale. Und dies passiert schleichend, kontinuierlich. Zu lange hat man sich auf den Erfolgen wie „Made in Germany“ ausgeruht, hat aus dem Vollen geschöpft und Geld für teilweise fragwürdige Projekte vergeudet. Die Frage ist: sehen die Verantwortlichen in Berlin diese bedrohliche Entwicklung nicht? Lesen sie keine Zeitung, werden sie nicht von Beratern gewarnt, kommen sie nicht mit „normalen“ Menschen in Berührung? Wahrscheinlich. Aber warum entscheiden sie dann so? Warum läuten in Berlin nicht längst die Alarmglocken und warum wird nicht schon entschieden gegengesteuert?

Eine schwierig zu beantwortende Frage. Es scheint überwiegend nur ideologisch erklärbar zu sein. Wo doch nahezu alle Branchen, ob Chemie, Bau und etliche andere nachweislich ins Straucheln geraten. Abwanderungen immer stärker stattfinden. Eine Deindustrialisierung voranschreitet. Alle Zahlen und Fakten zum Thema Wirtschaft – und davon gibt es unzählige – einen stark negativen Trend aufweisen! Sehr deutlich wird das allein an einer Zahl. Das Wirtschaftswachstum in Russland beträgt 2023 voraussichtlich 1,5 Prozent, das von Deutschland – 0,3 Prozent, eventuell – 0,5 Prozent! Das muss alarmieren. Auch der Mittelstand muss nun erkennen, dass die Lage ernst ist und Betriebe, die heute noch glauben, gut davon zu kommen, werden von diesem Trend erfasst.

Der Mittelstand kann nicht so einfach ins Ausland gehen. Daher sind Unternehmer-Persönlichkeiten gefordert, die sich aus der Deckung wagen. Zu schweigen und zu glauben, der Sturm ziehe über sie hinweg, ist unbegründet. Vornehme Zurückhaltung ist das völlig falsche Signal. Haltung, klare Positionierung dagegen sehr gefragt. In der nächsten Ausgabe wird es um die Rolle der Opposition, insbesondere der CDU gehen.  +++ Seien Sie gegrüßt ihr Klaus H. Radtke

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