„Sie leben in spannenden Zeiten. Ich möchte Sie mitnehmen auf eine kleine Reise in die Perspektiven, wohin Europa sich entwickeln kann,“ versprach Dr. Claas Knoop (Bremen), früher Spitzendiplomat und Mitglied im Speakers-Pool Team EUROPE DIRECT der Europäischen Kommission, seinen Gästen. Und Knoop hielt, was er ankündigt hatte: Fachkundig, kurzweilig und leidenschaftlich fiel sein Vortrag „Kann sich Europa in der Zeitenwende behaupten?“ aus. Statt Skepsis überwog die Zuversicht in den Betrachtungen des Referenten, die schließlich in einen Appell mündeten. Bei der Wahl am 9. Juni gelte „…Kurs halten“, um die schon 1949 im Grundgesetz (nach § 23 verpflichtet sich Deutschland, auf dem Weg zur europäischen Einheit voranzuschreiten und dafür Hoheitsrecht abzutreten …) und im Vertrag von Lissabon 2008 formulierten Ziele zu erreichen. Dazu brauche es einen „Kapitän und gute Navigatoren.“ An diesen Zielen habe sich seit 70 Jahren nichts geändert. Der Weg nach Europa sei bereits im Grundgesetz 1949 konstitutionell festgeschrieben worden. „Eine Zeitenwende“, die man laut Knoop „gar nicht stark genug betonen kann.“ Denn ohne Abtretung von Hoheitsrechten wäre „Europa, so wie wir es heute kennen, nicht möglich gewesen.“ Das sei ein Alleinstellungsmerkmal weltweit. Für Amerikaner, Russen oder Chinesen sei dieser Ansatz unvorstellbar. Aber „fundamental für das Verständnis des Weges in die Zukunft“, wie Knoop betonte.
Visionär
Perspektiven für das 21. Jahrhundert habe der frühere Kanzler Helmut Schmidt in seinem Buch „Die Selbstbehauptung Europas: …“ aus dem Jahr 2000 formuliert. Vieles habe er damals „visionär vorausgesehen, was heute Realität geworden ist.“ Selbstbehauptung, darunter verstehe Schmidt und „wir als Europäer …, dass wir unsere Werte bewahren, unseren „Way of Life“ weiterleben wollen und können. Und: Wir wollen auch unsere Freiheit bewahren, darüber selbst entscheiden zu können. Wir wollen uns nicht von Washington oder von Peking oder Moskau sagen lassen, wo es langgehen soll.“ Zugleich mahnte Knoop, „wir dürfen nicht vergessen, was wir in 70 Jahren erreicht haben.“ Europa – das sei schon immer ein Friedensprozess gewesen, in dem „Konflikte am Verhandlungstisch und nicht auf dem Schlachtfeld gelöst werden.“ Dafür hat die Europäische Union 2012 auch den Friedensnobelpreis erhalten. Das sei eine „ganz, ganz große Errungenschaft, auf die wir alle stolz sein können.“ Wenn Knoop mit Afrikanern oder Asiaten über die Europäische Union ins Gespräch gekommen sei, hätten sie immer wieder erwidert: „Soweit möchten wir auch mal kommen, wie ihr gekommen seid.“ Das, so meinte der Referent, „sollten wir bei aller Kritik an Europa nicht vergessen und nicht unterschätzen.“ In Europa sei etwas erreicht worden, was auf der Welt und in den internationalen Beziehungen einmalig ist. Das ist es wert, es zu bewahren.“
Immer engere Union
Ziel, war und ist seit den Anfängen eine immer engere Zusammenarbeit der europäischen Völker: eine immer engere Union. Diese „ever closer union“ hätten die Briten allerdings mit Sorge verfolgt. Denn sie glaubten, ihr Britisch-Sein könnte gefährdet sein. 51,9 Prozent der am EU-Referendum in Großbritannien Beteiligten hätten sich deshalb entschieden, die Union zu verlassen. Das sei ihr gutes Recht gewesen. Denn das „Tolle an der europäischen Einigungsgeschichte ist doch: Alles ist freiwillig.“ Ganz andere Beispiele europäischer Einigungsbestrebungen habe die europäischen Geschichte geliefert. Ob Napoleon, Hitler oder Stalin – sie alle seien gescheitert, weil sie es mit Gewalt versucht hätten. Selbst der große „Übervater der europäischen Einigung“, Karl der Große, ein Verfechter von „Feuer und Schwert“, sei erfolglos geblieben. Das müsse man sich vergegenwärtigen, wenn „über die Zeitenwende und Selbstbehauptung von Europa“ gesprochen werde. Ungeachtet der Erfolge sprach Knoop auch Skepsis und Herausforderungen für die Europäische Union an. 135 von 751 Abgeordneten im bisherigen Europa-Parlament „mögen die Europäische Union überhaupt nicht, haben sich aber trotzdem ins Parlament wählen lassen,“ stellte der Referent fest. Die Zahl der Skeptiker, die die EU ablehnen, werde tendenziell noch weiter wachsen. Das sei aus der Sicht der anderen Parteien bedenklich. Die 2015 verabschiedeten globalen Entwicklungsziele als Nachfolge der sogenannten Millenniums-Ziele stünden beispielhaft für die Herausforderungen der Europäische Union, vor allem die Beseitigung der Armut. Denn die ist nach Ansicht Knoops auf dem Vormarsch.
Migration und Armut bleiben Themen
Als weitere wesentliche Herausforderung nannte Knoop das Bevölkerungswachstum auf dem afrikanischen Kontinent. Afrika hat 1,3 Milliarden Einwohner. Im Jahr 2050 soll sich die Bevölkerung auf 2,5 bis 2,6 Milliarden verdoppelt haben. Die Migrationsfrage und Asylpolitik werde Europa deshalb weiterhin begleiten. „Sie ist auch mit dem letzten Kompromiss der EU keineswegs gelöst“, urteilt der Experte. Die Menschen, die in 20 bis 30 Jahren in Afrika geboren werden, werden nach Europa drängen. „Wie wollen wir mit Migration umgehen?“, laute deshalb die Frage. Eine ganz große Verantwortung trügen die Herkunftsländer. Warum wollen denn diese Menschen aus ihrer Heimat fliehen? „Weil es Lebensumstände gibt, die menschenunwürdig sind, und es ist auch – aber nicht nur – eine Verantwortung dieser Herkunftsländer, dafür zu sorgen, dass das sich ändert“, bekräftigte Knoop vor dem Fuldaer Publikum. Weitere Herausforderungen für die Europäische Union sieht der Referent darin, dass Demokratien auf dem Rückmarsch und Autokratien auf dem Vormarsch seien. Aber auch die zunehmenden Konflikte weltweit. Der Angriffskrieg auf die Ukraine ist nicht der erste, aber der größte Krieg auf europäischen Boden, der den Begriff Zeitenwende verdient.
Keine Weltpolizei
Wie stellt sich die Europäische Union angesichts von Konflikten auf? Knoops Antwort: „Die EU kann kein Weltpolizist sein und will es auch nicht. Wir können nicht überall eingreifen.“ Die Amerikaner hätten es lange genug versucht – aber ohne Erfolg. Europa müsse sich stattdessen fokussieren und überlegen, mit welchen Mitteln man reagieren wolle. Als schwierig stuft Knoop den Entscheidungsprozess zugunsten einer europäischen Armee ein. Das müsste einerseits einstimmig entschieden werden. Andererseits gebe es hinsichtlich des Auslandseinsatzes von Soldaten in Ländern wie Frankreich und Deutschland, aber auch Großbritannien grundsätzlich unterschiedliche Ansätze darüber, wer und wie über den Einsatz entscheidet.
Sicherheit gefährdet
Ungeachtet dessen sei festzuhalten, dass 79 Prozent der Deutschen die Sicherheit Europas durch den russischen Angriffskrieg gefährdet sähen. 81 Prozent der Deutschen sind sogar für mehr Macht der EU in der Außen und Sicherheitspolitik. Auf dem Gebiet der europäischen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik sei allerdings schon viel erreicht worden, unterstrich der Referent, etwa am Beispiel der zwei Prozent-Vorgabe der NATO am Bruttoinlandsprodukt der Mitgliedsstaaten für Verteidigungsausgaben. Ferner verwies Knoop auf den Europäischen Friedensfonds mit einem Umfang von 17 Milliarden Euro für den Zeitraum von 2021 bis 2027. 5 Milliarden seien bereits für die Ukraine zur Beschaffung von Waffen ausgegeben worden. Oder den Europäischen Verteidigungsfonds sowie den globalen Strategie-Ansatz der EU, die „Permanent Strategic Operation“ der Mitgliedsstaaten und die schnelle Eingreiftruppe der EU.
Dem Referenten des Abends bescheinigte Akademiedirektor Gunter Geiger hohe Sachkenntnis. Botschafter a.D. Knoop habe ein „rundum geschlossenes Bild“ von Europa geliefert. Angesichts der bevorstehenden Wahl sei enorm, „was derzeit alles in Fulda passiert und geboten“ werde. Als gelungen bezeichnete Geiger in diesem Zusammenhang die Kooperation mit dem DJV. Die vom Fachausschuss Europa initiierte Ausstellung „EU on tour“ lade zum Wiederkommen ein. Geist und Idee von Europa werde auf informative Weise weitergetragen.
Für den Vorstand des Landesverbands bekräftigte Vorstandsmitglied Jens Brehl, wie sehr „Europa unser Leben“ und das der Medienschaffenden präge. Als Gewerkschaft und Berufsverband vertrete der DJV die Interessen von 2000 Journalistinnen und Journalisten landesweit. Die Premiere der Kooperation des DJV mit der Katholischen Akademie sieht auch Brehl als gelungen an und dankte Fachausschussvorsitzendem Michael Schwab für sein Engagement. „Wann dann, wenn nicht jetzt vor der Wahl können wir Bewusstsein schaffen für Europa und aufmerksam machen auf die Arbeit unseres Verbands sowie unseres Fachausschusses“, betonte Schwab. Mit Akademieabend und Ausstellung habe der Ausschuss eine sinnvolle Kombination zur Werbung für die Europa-Wahl am 9. Juni gefunden. „Nutzen Sie die Informationen und gehen Sie wählen“, empfahl Schwab. Er betonte, Fulda habe mit Bonifatius schon seit Jahrhunderten eine ganz besonders enge Beziehung zu Europa und dem europäischen Gedanken. Der Heilige gilt als einer der ersten Europäer und wird daher gerne auch „Patron Europas“ genannt. Er verkörpere die Werte, für die auch die EU stehe und „letztlich jeder Einzelne von uns“ stehen sollte.
Die aktuelle Ausstellung „Europa on Tour“ zur Europa-Wahl ist noch bis zum 14. Juni werktags von 9:00 bis 17:00 Uhr mit reichlich Information über Aufgaben der Europäischen Union, deren Gremien und Zusammensetzung bis hin zur Neuheit im Wahlrecht – bereits mit 16 darf man wählen – im Fuldaer Bonifatiushaus zu sehen. +++ mb