Es ist fünf vor 12 – Heimische Gastronomie schlägt Alarm

„Die Gastronomie habe sich keineswegs an der Senkung der Mehrwertsteuer bereichert“

Das im Januar wahrscheinlich der Mehrwertsteuersatz wieder auf 19 Prozent steigt, ist nicht die einzige Gefahr, die man im heimischen Gaststättengewerbe sieht. Die Belastung ist vielseitig. Auch gehört dazu, dass viele Betriebe ab kommendem Jahr neue Verträge mit ihren Energieversorgen haben werden, und billiger wird es sicher nicht. Wenn man heute noch 60.000 Euro Kosten im Jahr hat, werden dann 100.000 Euro fällig. Weiter wurde in dem Gespräch mit den Mitgliedern der Initiative „Rhöner Charme“ am Mittwoch im „Stern“ in Poppenhausen (Wasserkuppe) klar, dass daneben noch andere Kosten steigen werden.

Benjamin (links) und Dieter Kehl.

Hierzu gehören auch die Lebensmittel, Personal- und weitere Kosten. Und an den Stellschrauben zur Teuerung ist fast überall der Staat beteiligt. Zu dem Gespräch mit der Presse hatte der Begründer sowie langjähriges Vorstandsmitglied der Initiative Dieter Kehl vom gleichnamigen Landgasthof in Tann-Lahrbach eingeladen. Kehl betonte, die Gastronomie habe sich keinesfalls an der Senkung der Mehrwertsteuer bereichert. Vielmehr habe man die 12 Prozent genutzt, um „sehr fair“ mit der Preisgestaltung und der Kostensteigerung umzugehen. Die Steuersenkung sei nicht dafür gedacht gewesen, um die Preise zu senken, unterstrich am Mittwoch auch Gastronom Stefan Faulstich vom Gasthof „Rhönblick“ in Petersberg-Steinau. Vielmehr diente sie dafür, um das Person zu halten und dieses angemessen zu bezahlen.

„Sieben Prozent Vorsteuer wurden in der Gastronomie schon immer geltend gemacht“

Stefan Hohmann und Stefan Faulstich. (v.l.)

Faulstich betonte, dass es in der Gastronomie schon immer so war, lediglich sieben Prozent Vorsteuer geltend machen zu können; dies sei schon immer eine Besonderheit der Branche. Das sei auch unfair gegenüber anderen Branchen, die die tatsächliche Vorsteuer geltend machten. Der Gastronom sieht mit der Rückführung der Mehrwertsteuer auf 19 Prozent viele Betriebe in ihrer Existenz bedroht. Andreas Jahn, der neue Vorsitzende des DEHOGA Hessen e.V. Kreisverbandes Fulda und gestriger Gastgeber, verwies auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine in dessen Kontext Lebensmittelpreise und Energiepreise gestiegen sind. Jahn: „Im Zuge dessen mussten wir die Preise schon etwas erhöhen; die Senkung der Mehrwertsteuer hat uns dafür den nötigen Spielraum gegeben, um nicht alle Kosten in voller Höhe an die Gäste weiterzugeben. „Und außerdem: Hätten sich die Gastronomen – so, wie der Vorwurf – wirklich an der Mehrwertsteuersenkung bereichert, wären gewiss mehr gastronomische Betriebe entstanden, aber das Gegenteil war der Fall“, fügte Benjamin Kehl (Landgasthof Kehl) vom Vorstand des Rhöner Charme hinzu. Man mache sich ernsthafte Sorgen um die Gastronomie in der Region. Doch nicht nur auf dem Land, sondern auch in der Stadt werde man die Berliner Politik zu spüren bekommen, unterstrichen die gestrigen Gesprächspartner unisono. Wie Benjamin Kehl zudem ausführte, gehe es nicht alleinig um die Mehrwertsteuer, die zum Januar 2024 wieder auf 19 Prozent gehoben werden soll, auch andere Kosten werden letztlich steigen. Da können schnell mal mehr als 25 oder 30 Prozent Preissteigerung zusammenkommen; und ob man diese Mehrkosten an die Gäste weitergeben könne, wagt Kehl zu bezweifeln. Und Dieter Kehl ergänzte: „Mit der Beibehaltung der jetzigen Mehrwertsteuer hätte man wenigstens einen Spielraum von 12 Prozent gehabt.“

„So gefährdet, wie aktuell, war die Gastronomie noch nie“

Benjamin Kehl

Erfahrungsgemäß werden die Preise um etwa 3 Prozent pro Jahr erhöht. Selbst, wenn man alle anderen Kosten nicht mit einkalkuliert, kommen so 15 Prozent zusammen. Ob die Gäste bereit dazu sind, diese Preissteigerungen mitzutragen, könne durchaus angezweifelt werden, war sich die Gastronomen einig. Benjamin Kehl: „Uns Gastronomen geht es in erster Linie um faire Rahmenbedingungen. Neben Förderprogrammen für die Gastronomie braucht es eine Entlastung.“ Nur so ließe sich ein Betrieb in die Zukunft führen. Diese jedoch werde den Betrieben scheinbar genommen. „So gefährdet, wie aktuell, war die Gastronomie noch nie“, so Kehl. Vielerorts hätten Gaststätten bereits schließen müssen. Die Gastronomie, gerade auf dem Land, erfüllt auch eine wichtige Rolle im sozialen Gefüge der Gesellschaft. Hier werden Hochzeiten, Geburtstage – aber auch Familien- und Trauerfeiern abgehalten. „Wo sollen diese Dinge in Zukunft stattfinden, wenn es keine Landgasthöfe oder Gaststätten mehr gibt“, gab DEHOGA Kreisvorsitzender Andreas Jahn zu bedenken, womit ihm alle Anwesenden unisono zustimmten. In Zukunft können solche Veranstaltungen teuer werden. „In Zukunft werden wir womöglich diese Angebote zurückfahren müssen“, unterstrich Rhöner Charme-Vorsitzender Benjamin Kehl.

Andreas Jahn

Spürbar war bei dem Vor Ort-Termin in Poppenhausen (Wasserkuppe), dass sich die Gastronomiebetriebe, die auch Familienbetriebe sind, von der hohen Politik im Stich gelassen fühlen. Vor allem sei man von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Finanzminister Lindner (FDP) mehr als enttäuscht. Stefan Faulstich: „Die Gastrobranche erfährt von der Politik keinerlei Wertschätzung“, so Faulstich, dieser darüber hinaus zu bedenken gab, dass die regionale Wertschöpfungskette, die von der Politik gefordert worden sei und diese sich Betriebe in den letzten Jahren mühsam aufgebaut hätten, in Gefahr sei. Hier geht es vor allem auch um Betriebe, die auf die Gastronomie angewiesen sind, wie Handwerksbetriebe und Zulieferer. „In den letzten Monaten haben wir Gastronomen viele Gespräche mit Kommunalpolitikern geführt. Man kann unsere Ängste nachvollziehen, in der Region versteht man uns, aber auf Bundesebene stößt man auf taube Ohren. Bundeskanzler Scholz hat in seinem Wahlversprechen beteuert, dass die Mehrwertsteuersenkung nicht abgeschafft würde; wenn man sich schon nicht mehr auf ein Kanzlerwort verlassen kann, muss man sich nicht wundern, warum die Politikverdrossenheit immer weiter zunimmt“, sagte Stefan Faulstich. Und Dieter Kehl ergänzte: „Unter diesen Voraussetzungen sehen die Gastronomen die Nachfolgeregelung schwierig. Wer möchte schon unter diesen Bedingungen den elterlichen Betrieb übernehmen? Es ist fünf vor 12. Die Gastronomie steht mit dem Rücken zur Wand.“ +++

Angemerkt von Norbert Hettler

„Es wird nie mehr so sein, wie vor der Pandemie!“ – dieser Satz war wohl das zutreffendste politische Schlagwort der letzten Jahre. Es übertrifft fast noch die Worte der Ex-Kanzlerin aus dem Jahr 2015, die mit „Wir schaffen das!“ für Furore sorgte. Doch Corona allein war nur der Anfang einer Reihe, die normalere Artikel, wie etwa Toilettenpapier in ein Luxusgut verwandelte. Deutschland fiel auf ein Niveau zurück, wie man es – zumindest im Westen – in den letzten Jahrzehnten nicht mehr erlebte. Das reale Einkommen verringert sich zunehmend. Die Preise sind gefühlt um 50 bis 100 Prozent gestiegen. Auf die reale Preiserhöhung wurde nochmal draufgeschlagen, was man als Verbraucher als regelrechte Abzocke wahrgenommen hat. In der Berliner Politik wurde es als „Übergewinne“ bezeichnet und auch leise ein wenig kritisiert, bevor es dann im Karton der Schweigsamkeit verschwand. Das in unserem Land vieles nicht mehr stimmt, war auch dem gestrigen Gespräch mit den Gastronomen zu entnehmen. Das war kein „Jammern auf hohem Niveau“; das war echt! Ein Land, das vom Wachstumsgarant plötzlich zum Verlierer wird, dem die Fachkräfte – wohin auch immer – davonlaufen, das seine wichtigsten Handelspartner vergrault, und weder mit der besten – den 40+ -, noch mit der letzten Generation klarkommt, ist auch nicht sonderlich attraktiv für Menschen, die noch anpacken und was erreichen wollen. Wenn einem die Politik immer nur Steine in den Weg legt, türmt sich das Ganze letztlich als unüberwindbare Mauer auf. Wir müssen nicht kriegsfähig werden, diese Politik stürzt unser Land sehendes Auge ins Verderben. Wenn es so weitergeht, schaffen wir das wohl doch nicht!

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