Die WM in Katar boykottieren? Ja! Nein! Vielleicht!

Kolumne

Schau ich nun oder nicht. Das ist die Frage, die sich derzeit viele Fußballbegeisterte angesichts der heute beginnenden WM in Katar stellen. Auch ich bin innerlich zerrissen, was ich machen soll. Auf der einen Seite sagt mein Fußballherz: Eine Fußballweltmeisterschaft kannst Du Dir doch nicht entgehen lassen! Andererseits meldet sich die Ratio in mir: Bist Du wirklich sicher, dass Du trotz Korruption, Menschenrechtsverletzungen und Todesfällen beim Bau der Stadien die Fußballspiele reinen Gewissens schauen kannst? Je näher die WM näher rückte, umso intensiver beschäftige ich mich mit dieser Frage. So wie mir geht es vielen Abertausend anderen Fußballinteressierten. Die meisten Schwanken wohl noch und wissen eigentlich noch nicht so recht, was sie machen werden. Die erste Nagelprobe wird am Mittwoch kommen, wenn Deutschland das erste Gruppenspiel hat. Bis dahin ist wird das Gewissen erst wenig geplagt.

Eigentlich hatte ich mich recht früh dazu entschieden, diese WM zu boykottieren. Die Umstände, wie Katar den Zuschlag zu der WM bekommen hat, widerten mich an. Zugegeben, bei der WM 2006 in Deutschland ging wohl auch nicht alles mit rechten Dingen zu. Was sich allerdings erst im Nachhinein herausstellte. Verstärkt in meiner Meinung wurde ich dann durch die immer intensiver werdende Berichterstattung über die Menschenrechtsverletzungen und die unzähligen Todesfälle im Zusammenhang mit den Baumaßnahmen für diese WM. Also, diese WM in Katar wird boykottiert! Oder doch nicht? Gibt es wirklich Fortschritte für die Arbeitssklaven in Katar? Hat die internationale Arbeitsorganisation (ILO) recht mit dieser Feststellung? Haben alle diejenigen recht, die sagen, mit dieser WM helfen wir den Entrechteten: den Arbeitssklaven, Schwulen, Lesben, Queeren und vor allem den Frauen in diesem Land? Bewegt sich in diesem erzkonservativen Staat wirklich etwas, was in vielen Berichterstattungen und Talkshows kolportiert wird? Ich komme wieder ins Grübeln. Wem schade ich eigentlich mit meinem Boykott? Doch wohl nur mir selbst, meiner Fußballbegeisterung, meinem Hobby, dem ich als Stadionbesucher regelmäßig fröne. Einer FIFA wird das egal sein. Sie und ein Großteil ihrer korrupten Funktionäre haben ihr Geld. Ihnen wird mein Boykott egal sein. Setze ich wirklich ein Zeichen? Setzen wirklich viele ein Zeichen, wenn sie boykottieren? Ich grüble weiter.

Was ist, wenn die Sponsoren merken, dass weniger Zuschauer diese WM am Fernseher verfolgen als gedacht? Wenn, wie es sich abzeichnet, das Merchandising nicht in die Gänge kommt, wenn, wie angekündigt, viele Public-Viewings nicht stattfinden? Wenn die Fangruppen in den Stadien berechtigterweise noch mehr Stimmung gegen FIFA, UEFA und DFB machen werden? Geht davon nicht doch eine Signalwirkung aus? Das Grübeln entwickelt sich immer mehr zu einem klaren Bild. Die WM in Katar findet statt, auch mit Geschmäckle. Für die teilnehmenden Fußballer ist das natürlich ein Highlight. Zweifelsohne. Und es sei ihnen gegönnt, auch wenn nur ganz wenige Charakter zeigen und Kritik an dieser WM äußern. Woher soll auch eine solche Haltung kommen? Fast alle führen seit ihrer Jugend ein Leben in einer goldenen Blase. Kaum jemand entwickelt eine eigene Meinung. Warum auch, die haben Berater und die PR-Abteilungen der Vereine und Verbände. Da ist Kritik nicht unbedingt angesagt (Ausnahmen bestätigen die Regel). Aber ich habe eine eigene Meinung und befasse mich mit gesellschaftlichen Entwicklungen. Da stelle ich gerne meine Leidenschaft in den Hintergrund. Das Gewissen steht im Zweifelsfall über dem Herzen. Ich boykottiere! +++ dieter