Politiker der im Bundestag vertretenen Parteien wünschen sich anlässlich des 75. Geburtstags des Grundgesetzes Veränderungen und Ergänzungen in der deutschen Verfassung. „Wir sollten Kinderrechte ins Grundgesetz aufnehmen. Eine Verankerung im Grundgesetz würde sicherstellen, dass bei allen staatlichen Maßnahmen und Entscheidungen die Interessen von Kindern vorrangig berücksichtigt werden“, sagte der Vizevorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Dirk Wiese, dem „Spiegel“.
Der Vizefraktionschef der FDP im Bundestag, Konstantin Kuhle, forderte ein „Update in Sachen Zivil- und Katastrophenschutz“. Der Koalitionsvertrag sehe etwa vor, das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe mit einer sogenannten Zentralstellenfunktion auszustatten. „Hierfür müsste eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes in Artikel 73 des Grundgesetzes eingefügt werden“, sagte Kuhle dem Nachrichtenmagazin. Der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen-Fraktion im Bundestag, Till Steffen, wünschte sich eine noch klarere Erwähnung des Klimaschutzes in der Verfassung. Artikel 20 Absatz 1 des Grundgesetzes, in dem sich die wichtigen Grundprinzipien fänden, sollte nach Ansicht Steffens ergänzt werden. „Er sollte lauten: Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer, sozialer und ökologischer Bundesstaat“, sagte Steffen. Der Jurist und frühere CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler plädierte für eine Direktwahl des Bundespräsidenten und eine Volksabstimmung bei der Übertragung von Hoheitsrechten an zwischenstaatliche Institutionen. Auch will er die Stellung der Abgeordneten im Bundestag stärken. So sollte „die Ausübung eines Fraktionszwangs untersagt“ werden und „Zuwiderhandlungen“ die Abstimmung ungültig machen. Die Abgeordneten sollten im Bundestag künftig auch nicht mehr „nach Fraktionszugehörigkeit, sondern nach alphabetischer Reihenfolge Platz nehmen“, regte Gauweiler als Ergänzung des Artikels 42 an. Martina Renner, Bundestagsabgeordnete der Linken, erinnerte im „Spiegel“ an den „dezidiert antifaschistischen“ Charakter des Grundgesetzes. „Es war die Erfahrung des Faschismus, die den Hintergrund der Formulierung bildet. Dieses Erbe gilt es immer wieder neu zu verteidigen“, sagte die Linken-Politikerin und verwies die grundgesetzliche Möglichkeit eines Parteienverbots, wenn die Demokratie in Gefahr sei. „Ein solches Verbot könnte das Bundesverfassungsgericht gegen die AfD verhängen“, so Renner. „Einiges spricht dafür, dass dies nicht im Konflikt mit dem Grundgesetz stünde, sondern eben seinem antifaschistischen Auftrag gerecht werden würde.“
Steinmeier sieht Grundgesetz vor „Zeit der Bewährung“
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mahnt zu einer konsequenten Umsetzung der demokratischen Prinzipien im Grundgesetz. „An einem Feiertag wie heute mischt sich in den Stolz auch Unbehagen“, sagte er am Donnerstag in Berlin beim Staatsakt zum 75. Jahrestag der Verkündung der deutschen Verfassung. „Manche fragen: Was bleibt von den großen Versprechen des Grundgesetzes?“, so Steinmeier weiter. Die Spannung zwischen Verfassung und Verfassungswirklichkeit sei „nicht zu übersehen“. Aber folgen müsse daraus nicht ein kritischer Blick auf die Verfassung, sondern auf die Wirklichkeit. „Denn das Grundgesetz ist keine Bilanz, sondern ein Auftrag. Nicht Ziel, sondern Kompass“, so der Bundespräsident. „Wir leben in einer Zeit der Bewährung. Es kommen raue, härtere Jahre auf uns zu.“ Die Antwort darauf könne und dürfe jedoch nicht Kleinmut oder Selbstzweifel sein. „Es wäre ganz falsch, den Kopf in den Sand zu stecken oder von einer bequemeren Vergangenheit zu träumen. Falsch ist es nach meiner festen Überzeugung auch, täglich den Untergang unseres Landes zu beschwören.“ All das lähme und bringe nicht weiter. „Wir müssen uns jetzt behaupten – mit Realismus und Ehrgeiz. Das ist die Aufgabe unserer Zeit, Selbstbehauptung ist die Aufgabe unserer Zeit.“ Diese Selbstbehauptung bestehe darin, die Werte zu verteidigen, „die uns im Kern ausmachen“. „Die dürfen nicht zur Disposition stehen.“ Dabei gelte es aber auch, die gemeinsamen Ziele zu schärfen und an die neuen Herausforderungen anzupassen. „Und vor allem müssen wir offen reden über die Größe der Aufgabe und über die Verantwortung, die daraus erwächst, für die Politik, aber auch für jeden Einzelnen von uns.“ Als Herausforderung hob das Staatsoberhaupt die Bedrohung, die von Russland ausgehe, hervor. Um dieser zu entgegnen, forderte er Investitionen in die Verteidigung und eine Stärkung der Bündnisse Deutschlands. Darüber hinaus brauche es aber auch „gesellschaftliche Widerstandskraft“. Zudem erwartet Steinmeier, dass in den nächsten Jahren der gesellschaftliche und politische Streit zunehmen wird. „Der Kampf um finanzielle Ressourcen wird härter werden, und damit auch um das, was uns wichtig ist“, sagte der Bundespräsident.
Merkel ruft zum Schutz des Grundgesetzes auf
Die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat zum Schutz des Grundgesetzes aufgerufen. „Ich hatte in meiner Kindheit nicht damit gerechnet, dass ich auch an diesem Grundgesetz mit beteiligt sein kann und es leben darf“, sagte sie dem ARD-Hauptstadtstudio am Rande des Staatsakts zu 75 Jahre Grundgesetz am Donnerstag. „Ich stimme dem zu, was heute auch der Bundespräsident gesagt hat: Wir müssen es schützen.“ Das Grundgesetz sei keine Selbstverständlichkeit. „Und deshalb schaue ich heute fröhlich auf diesen Tag – aber eben auch entschieden, dafür zu kämpfen, dass die, die nach uns kommen, auch noch das Glück des Grundgesetzes haben“, so Merkel. Die jüngsten Vorfälle von Gewalt gegen Wahlkämpfer und Lokalpolitiker vor der Europawahl bezeichnete sie als ein besonders großes Problem. „Denn unser Land lebt ja natürlich von der Kommunalpolitik, von den Menschen vor Ort, die sich engagieren“, sagte die ehemalige Kanzlerin. „Und wenn die Angst haben müssen um sich und ihre Familien und nicht so viel Schutz wie vielleicht ich oder andere genießen, dann ist das ein großes Problem. Und deshalb müssen wir gemeinsam wehrhaft sein.“ +++