Vortrag des Geschichtsvereins zu Siedlungen Trätzhof und Haderwald

Mit leeren Versprechungen in die Fremde gelockt

Alte Schule Trätzhof: Die Schule in Trätzhof wurde erst 1941 eingerichtet, obwohl sie den umgesiedelten Rhönern bereits 1938 versprochen worden war. Heute befindet sich dort das Bürgerhaus Trätzhof. Foto: Franziska Schlemmer

Eine so große Resonanz hat der Geschichtsverein Fulda noch nie auf eine Veranstaltung gehabt: Rund 200 Menschen waren ins Kanzlerpalais gekommen, um dem Vortrag der Kunsthistorikerin Franziska Schlemmer zu lauschen. Sie berichtete über die Siedlungspolitik der Nationalsozialisten anhand der Beispiele Trätzhof und Haderwald. Ein Teil der Gäste konnte keinen Sitzplatz mehr ergattern, so groß war der Andrang. „Gefühlt ist ja halb Trätzhof hier“, sagte der Vorsitzende des Geschichtsvereins, Gerhard Möller, mit einem Schmunzeln. Das hohe Interesse beweise, dass dieses Thema immer noch bei den Fuldaern präsent und noch lange nicht aufgearbeitet sei.

Referentin Franziska Schlemmer teilte die NS-Siedlungspolitik in verschiedene Phasen ein: Direkt nach der Machtergreifung war der Wohnungsbau eine wichtige Maßnahme, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. „Aber bereits ab 1935 wurde sich auf das Militär fokussiert“, sagte Schlemmer, die Kunstgeschichte in Marburg studiert hat und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Vonderau Museum ist. Am 1. Oktober 1935 wurde die Wehrpflicht eingeführt – und die Wehrmacht benötigte zur Vorbereitung des Krieges großflächige Übungsplätze. Eine dieser Plätze wurde in der Rhön ausgemacht: Im Gebiet zwischen Gersfeld, Bad Brückenau, Motten und Wildflecken sollte der Truppenübungsplatz Wildflecken entstehen. „Insgesamt handelte es sich um 7200 Hektar, die teilweise in Hessen, größtenteils aber in Bayern liegen. Die Pläne dafür wurden schon Mitte der 1930er-Jahre geschmiedet“, berichtete die Expertin. Für das gewaltige Vorhaben mussten 2000 Menschen aus neun Dörfern umgesiedelt werden. Zuständig dafür war die eigens geschaffene Reichsumsiedlungsgesellschaft in Berlin. Zu den Orten, die umgesiedelt wurden, gehörten auch Dalherda und Kippelbach. „Dalherda war das einzige Dorf, das erhalten geblieben ist, da die Wehrmacht dort den Häuserkampf trainieren wollte“, erklärte Schlemmer. Die Meinung der Bewohner spielte keine Rolle, betonte sie: „Eine öffentliche Diskussion über den Sinn oder Unsinn der Umsiedlungen war in der Diktatur nicht möglich. Erst nach dem Krieg beklagten die Rhöner den Verlust ihrer Heimat.“ Die Bewohner wurden entschädigt, zogen zu Verwandten oder bekamen Angebote in neu geschaffenen Siedlungen. Es kam aber auch zu Enteignungen.

Ein Teil der Menschen zog nach Unterfranken und in den Frankfurter Raum. Ein anderer Teil zog nach Fulda: Die Reichsumsiedlungsgesellschaft hatte unter anderem Trätzhof bei Maberzell als neue Siedlung im Sinn. Dort hatte sich ein alter Gutshof befunden. Etwa 200 Dalherdaer sollten in Trätzhof eine neue Heimat finden. „Alles musste schnell gehen“, beschrieb Schlemmer die Situation. Die Wehrmacht begann bereits im Winter 1936 mit den ersten Arbeiten am Truppenübungsplatz, im Mai 1938 kamen die ersten Siedler in Trätzhof an. „Sie fanden eine riesige Baustelle vor, ein Ort ohne Straßen“, machte die Historikerin deutlich. Die Häuser waren oft noch nicht fertiggestellt, alles wirkte improvisiert. „Die Höfe waren mit denen in der Rhön überhaupt nicht zu vergleichen.“ Die Schule, die eigentlich schon mit Siedlungsbeginn versprochen war, wurde erst 1941 eingerichtet, die Kinder mussten solange bis nach Maberzell laufen. Auch eine Kirche fehlte. „In diesem Fall konnten die Trätzhofer aber nicht in die Nachbarorte ausweichen, da sie evangelisch waren – und alles um sie herum katholisch.“ Gottesdienste wurden notdürftig in einer Scheune, später in einem Gasthaus gehalten. „Die Nazis haben den Bau einer Kirche nicht als notwendig erachtet“, erklärte Schlemmer. Erst nach dem Krieg erhielt Trätzhof sein Gotteshaus. Noch schlimmer war die Situation in der Haderwaldsiedlung. Das Areal zwischen Neuenberg und Haimbach wurde nach einem Wald in der Rhön benannt, um Heimatgefühle zu wecken.

Ansonsten war die Reichsumsiedlungsgesellschaft wenig bemüht, die Menschen in ihre neue Umgebung zu integrieren: „Trätzhof hatte seine Probleme, aber wenigstens einen zentralen Platz, ein Gasthaus und später eine Schule. In der Haderwaldsiedlung wurden hingegen nur die nötigsten Maßnahmen umgesetzt, obwohl beide Anlagen fast zeitgleich errichtet wurden.“ Es gab keinen Dorfplatz, keine kulturellen Zentren, keine Schule, keine Kirche, nicht mal einen eigenen Friedhof. Auch in der Haderwaldsiedlung gab es konfessionelle Probleme mit dem katholischen Nachbarn aus Neuenberg und Haimbach. Damit nicht genug: Die Rhöner mussten ihre Häuser kaufen, ohne zu wissen, wo sie standen und in welchem Zustand sie waren. Die Häuser in der Haderwaldsiedlung waren billigst und eiligst aufgebaut, bereits Ende der 1940er-Jahre waren erste Balken verfault. Fertig war sowieso kaum ein Gebäude, „und mit Kriegsbeginn wurden auch noch die notwendigen Baumaterialien beschlagnahmt“.

Schlemmers Fazit: „Die Reichsumsiedlungsgesellschaft hat die Rhöner mit leeren Versprechungen in halbfertige Siedlungen gelockt. Die Nationalsozialisten hatten keinerlei Interesse an der umgesiedelten Bevölkerung, sondern konzentrieren sich voll aufs Militär.“ Die Menschen wurden in ihrer neuen Heimat weder integriert noch fühlten sie sich dort heimisch. Als Konsequenz mussten viele ihre eigentliche Tätigkeit, die Landwirtschaft, aufgeben und stattdessen Arbeit in der Stadt suchen. „Für die Bewohner in Trätzhof und der Haderwaldsiedlung stellte diese Zeit eine große Belastung dar.“ +++ pm