Merz hört mit – Vor Ort im Nirgendwo

Fulda/ Gießen. Wo findet eigentlich Politik statt? Böse Zungen behaupten, nirgends. Demnach wäre Politik ein utopischer Zustand, da Utopie bekanntlich nichts anderes als „Nicht-Ort“ bedeutet. Da wir aber von mit „utopisch“ vernünftigerweise zu bezeichnenden Zuständen nach allgemeiner Auffassung weit entfernt sind, muss es Orte der Politik geben. Wir haben in dieser Kolumne (vgl. Kolumne Nr. 5) bereits länger über den Prüfstand als eine politisch bedeutsame Infrastruktureinrichtung gesprochen und auf deren chronische Überlastung hingewiesen. Da dies auch „in der Politik“ – übrigens ein Ort für sich – so gesehen wird, sind Ausweichquartiere dringend erforderlich.

Als Ersatz für den Prüfstand bietet sich da z.B. der Verschiebebahnhof an, der dieselbe Funktion erfüllen kann, dabei aber deutlich mehr Platz bietet. Hinsichtlich seiner Politiktauglichkeit muss allerdings einschränkend gesagt werden, dass es ihn streng genommen nur in Österreich gibt, wo er als „ein von der ÖBB Infrastruktur betriebener Verschiebe- und Umschlagbahnhof in der oberösterreichischen Stadt Wels“ eine nützliche Funktion – ursprünglich für den Transport von Rüstungsgütern, ist nicht wahrhaftig der Krieg der Vater aller Dinge, sogar der Verschiebebahnhöfe – erfüllt. Er hat aber mittlerweile nicht nur Ländergrenzen, sondern auch die Grenze zwischen Raum und Zeit überschritten, denn die Züge auf den Verschiebebahnhöfen fahren nicht einfach nach Nirgendwo – also gewissermaßen ins Utopische – , sie fahren überhaupt nicht: Politisch betrachtet fährt auf dem Verschiebebahnhof kein Zug nach Nirgendwo! Vermutlich müssen die Zeitschienen mal auf den Prüfstand!

Immerhin sind die Verschiebebahnhöfe geräumig. Das ist allein schon deshalb wichtig, weil die Zahl der nicht zu bearbeitenden oder gar zu erledigenden politischen Themen deutlich größer ist als die der bearbeitungs-und entscheidungsreifen. Enger geht es in den Entscheidungskorridoren zu, zumal dann, wenn sie mit Runden Tischen vollgestellt werden (vgl. Kolumne Nr. 4). Daher ist der Ausbaukorridor in jüngster Zeit immer wichtiger geworden. Eher unbeliebt sind und bleiben die Einbahnstraße, das Ende der Fahnenstange und der Schützengraben, wohingegen viel und gerne auf den Vorfeldern an den Schnitt- und Sollbruchstellen gearbeitet wird. Dabei sollte darauf geachtet werden, dass man vom jeweiligen Standort bequem über den Tellerrand hinaus blicken kann. Auch sollte man luft- oder gar blutleere (der ehemalige hessische Ministerpräsident Koch, CDU) Räume und verbrannte Erden tunlichst meiden.

Sucht man einen Ort, an dem man unbehelligt politische Monstranzen, Gebetsmühlen und Mantras (vgl. Kolumne Nr. 8) vor sich her tragen oder murmeln, sie vor allem aber verwechseln kann, dann ist natürlich das Nirwana der Ort der Wahl, oder genauer: der Nicht-Ort, denn Nirwana bezeichnet „den Austritt aus dem Kreislauf des Leidens und der Wiedergeburten durch Erwachen“. Der Nachteil des Nirwana besteht allerdings darin, dass es leicht mit Botswana verwechselt werden kann. Eher hektisch geht es in den Denkwerkstätten, Denkfabriken, Competence Centern, Think Tanks, Diskurslandschaften, Erfahrungsaustauschgruppen und Themenlaboren zu, in denen tagtäglich an all den Visionen, Rahmenbedingungen und Strukturen gearbeitet wird, die wir dann später auf den Prüfständen und Verschiebebahnhöfen wieder finden. Diese alle sind die modernen Versionen jenes mythischen Ur-Ortes der Politik, des „vor-Ortes“! Die „Politik vor Ort“ gilt nach wie vor als die Politik schlechthin, als das Nonplusultra, als das Optimale, ach was: das Optimalste. Und dabei ist man der Wahrheit näher als man glaubt. Das (!) Ort ist der Punkt ganz hinten im Stollen, da wo das Urgestein haust. „Vor der Hacke is‘ duster“, sagt der Bergmann. Glück auf! +++ fuldainfo | gerhard merz