Eine breite Mehrheit der Bevölkerung sieht Deutschland nicht ausreichend für die Zukunft gerüstet und fordert daher Reformen. Nur ein Prozent der Bundesbürger halten Deutschland für gut gerüstet, wie eine von RTL und ntv in Auftrag gegebene Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa zeigt, die unter 1.006 Erwerbstätigen vom 22. und 25. August durchgeführt wurde.
17 Prozent halten kleinere Veränderungen für ausreichend, während 82 Prozent grundlegende Reformen in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft für notwendig erachten. Diese Einschätzung zieht sich durch alle Bevölkerungsgruppen - sowohl in Ost (79 Prozent) als auch West (82 Prozent), unter Erwerbstätigen (81 Prozent) sowie über alle Alters- und Wählergruppen hinweg. Besonders deutlich fällt die Reformforderung bei AfD-Anhängern aus (98 Prozent), aber auch Wähler von SPD, Grünen, Linken und Union sehen mehrheitlich grundlegenden Handlungsbedarf.
Auch beim Blick auf die sozialen Sicherungssysteme zeigt sich ein klarer Reformwunsch. Vor dem Hintergrund steigender Kosten durch den demografischen Wandel sprechen sich 86 Prozent der Befragten für einen Abbau von Bürokratie im Gesundheitswesen aus - etwa durch Digitalisierung oder Zusammenlegung von Krankenkassen. 51 Prozent befürworten die Abschaffung der privaten Krankenversicherung, vor allem Jüngere und Anhänger von SPD, Grünen und Linken.
Eine stärkere finanzielle Beteiligung von Gutverdienenden über höhere Krankenkassenbeiträge findet bei 39 Prozent Zustimmung, besonders unter den unter 30-Jährigen. Reformvorschläge wie höhere Eigenbeteiligung von Patienten (12 Prozent), Leistungskürzungen (9 Prozent) oder Beitragserhöhungen für alle Versicherten (6 Prozent) stoßen dagegen auf breite Ablehnung.
77 Prozent der Bürger halten ein einheitliches Rentensystem für sinnvoll. Auch eine Ausweitung des Kreises der Beitragszahler durch bessere Integration in den Arbeitsmarkt (68 Prozent) sowie die Förderung privater und betrieblicher Altersvorsorge (52 Prozent) finden breite Unterstützung. Weniger gefragt sind zusätzliche Steuerzuschüsse (30 Prozent), während klassische Sparmaßnahmen wie ein höheres Rentenalter (15 Prozent), Beitragserhöhungen (5 Prozent) oder Rentenkürzungen (3 Prozent) kaum Zustimmung finden.
Diese Reformwünsche werden parteiübergreifend geteilt, wenn auch mit Unterschieden: Während CDU/CSU-Anhänger eine Anhebung des Rentenalters häufiger befürworten (32 Prozent), lehnen dies AfD- und Linke-Wähler fast geschlossen ab. Die Förderung der privaten Altersvorsorge ist vor allem bei SPD-, Grünen- und Linken-Anhängern beliebt, bei AfD-Wählern dagegen deutlich weniger. Jüngere Befragte sind generell offener für neue Modelle, lehnen aber drastische Kürzungen oder Altersgrenzen eher ab.
70 Prozent sprechen sich für strengere Zugangsvoraussetzungen beim Bürgergeld aus. Fast die Hälfte der Befragten befürwortet eine deutliche Senkung (48 Prozent) oder die Abschaffung des Bürgergelds in seiner aktuellen Form (46 Prozent). Besonders hoch ist die Zustimmung dafür bei Über-45-Jährigen, während Unter-30-Jährige diese Vorschläge mehrheitlich ablehnen.
Weitere Reformideen wie verschärfte Anforderungen beim Wohngeld (43 Prozent) oder eine Senkung der Einkommensgrenze beim Elterngeld (38 Prozent) finden weniger Zustimmung, massive Kürzungen von Elterngeld (10 Prozent) oder Wohngeld (18 Prozent) stoßen auf breite Ablehnung - vor allem bei Jüngeren.
Die große Mehrheit der Deutschen bezweifelt, dass die Bundesregierung aus Union und SPD bereit ist, grundlegende Reformen in den sozialen Sicherungssystemen umzusetzen. Nur 13 Prozent trauen der Koalition ernsthafte Reformen in diesem Bereich zu, 78 Prozent glauben nicht daran. Besonders kritisch sehen es Wähler von Grünen (88 Prozent Ablehnung), Linken (85 Prozent) und AfD (92 Prozent), aber auch bei Anhängern von CDU/CSU (54 Prozent Ablehnung) und SPD (71 Prozent) ist die Skepsis groß.
Auch in der Frage der Finanzierung zukünftiger staatlicher Investitionen, etwa in Bildung, Infrastruktur oder Digitalisierung, bevorzugen die Deutschen mehrheitlich Haushaltsdisziplin. 65 Prozent sprechen sich dafür aus, Investitionen vorrangig durch Einsparungen in anderen Bereichen zu finanzieren. Nur 16 Prozent befürworten zusätzliche Schulden, 11 Prozent höhere Steuern und Abgaben. Besonders stark ist die Sparbefürwortung im Lager von CDU/CSU und AfD (je 80 Prozent). Anhänger von SPD, Grünen und Linken hingegen zeigen sich offener für Schuldenaufnahme oder Steuererhöhungen - bei den Grünen befürworten 39 Prozent Schulden und 32 Prozent Steueranhebungen als Finanzierungsweg.
Allgemeine Steuererhöhungen zur Finanzierung von Reformen lehnen die Deutschen mehrheitlich ab. Nur gezielte Maßnahmen finden Zustimmung: 59 Prozent befürworten höhere Steuern für Spitzenverdiener, 57 Prozent für große Vermögen. Eine stärkere Erbschaftsteuer unterstützen 41 Prozent. Breite Steuererhöhungen wie bei der Mehrwertsteuer (17 Prozent) oder der Einkommensteuer für mittlere Einkommen (12 Prozent) stoßen hingegen auf klare Ablehnung. Eine Wiedereinführung der Vermögensteuer befürworten 37 Prozent. Zustimmung für höhere Reichensteuern kommt vor allem aus dem Lager von SPD, Grünen und Linken. Anhänger von CDU/CSU und AfD zeigen sich deutlich skeptischer.
CSU schlägt "verpflichtendes Vorsorgekonto" für Bürger vor
In der Debatte über Sozialreformen schlägt der CSU-Fraktionschef im bayerischen Landtag, Klaus Holetschek, die Einführung eines Pflicht-Vorsorgekontos vor. "Gesellschaftliche Vorsorge sollten wir neu denken: mehr Eigenverantwortung, weniger Abhängigkeit vom Staat", sagte Holetschek dem Nachrichtenmagazin Focus. Er könne sich zum Beispiel ein verpflichtendes persönliches Vorsorgekonto für alle Bürger vorstellen, steuerlich gefördert und staatlich unterstützt. "Wer vorsorgt, soll es besser haben." Der Sozialstaat müsse auf das Wesentliche fokussiert werden, ergänzte der Christsoziale. "Hilfe für jene, die sie wirklich brauchen, bei gleichzeitiger Stärkung von Eigenverantwortung."
Die SPD-Bundestagsfraktion fordert derweil ein besser austariertes Gesundheitssystem. "Der Herbst der Reformen kommt nicht durch markige Sprüche, sondern durch harte Arbeit", sagte die Vizechefin der SPD-Fraktion, Dagmar Schmidt, dem Focus. "Gerade im Gesundheitssystem geben wir vergleichsweise sehr viel Geld aus und die Menschen bekommen trotzdem oft nur schwer einen Termin beim Arzt", warnt die Abgeordnete. "Deswegen haben wir schon große Reformen wie die Krankenhausreform begonnen, und ich erwarte, dass diese konsequent umgesetzt und die Reform der ambulanten Versorgung vorangetrieben wird."
DGB: Fahimi schließt bei Sozialreformen Leistungskürzungen aus
Die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi hält den Sozialstaat anders als Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) weiter für finanzierbar. "Ich bin auch der Überzeugung, dass wir eine Modernisierung des Sozialstaats brauchen", sagte Fahimi dem "Tagesspiegel". "Leistungskürzungen sind für mich dabei ausgeschlossen." Stattdessen brauche es mehr Effizienz sowie Gerechtigkeit.
In der Debatte um das Bürgergeld warf die Gewerkschafterin Merz und den Arbeitgebern Unseriosität vor. "Er und viele andere machen den Fehler, nominale Werte zu vergleichen", sagte Fahimi dem Tagesspiegel. "Es ist völlig unseriös, nur mit den absoluten Zahlen zu hantieren. Es gibt keinen Aufwuchs beim Bürgergeld." Wenn man die Ausgaben mit dem Haushalt oder der Wirtschaftsleistung ins Verhältnis setze, seien sie sogar leicht gesunken.
Trotzdem sieht auch sie Handlungsbedarfe im Bürgergeld-System. "Ich sehe eine Notwendigkeit, die organisierten kriminellen Banden und deren Machenschaften schonungslos aufzudecken und zu unterbinden." Menschen aus Südosteuropa würden nach Deutschland gelockt, in überbelegten Schrottimmobilien untergebracht und mit fingierten Arbeitsverträgen ausgestattet, um schließlich zum Amt geschickt zu werden. "Diese kriminellen Machenschaften müssen wir abstellen", sagte sie. Weiteren Handlungsdruck gebe es bei Aufstockern. "Das ist nichts anderes als ein steuerfinanzierter Kombi-Lohn", so Fahimi. Das könne man nicht länger tolerieren.
Vorschlag für "Boomer-Soli" kritisiert
Die DGB-Vorsitzende hat DIW-Präsident Marcel Fratzscher für dessen Rentenvorschläge scharf kritisiert. "Das ist menschenunwürdig, ein Eingriff in die individuelle Freiheit und ein neuer Tiefpunkt des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung", sagte Fahimi dem "Tagesspiegel" weiter. "Solche Vorschläge kann man nur machen, wenn man von der Lebensrealität der Menschen keine Ahnung hat."
Fahimi bezog sich dabei auf jüngste DIW-Vorschläge wie den Boomer-Soli oder ein verpflichtendes Jahr für Rentner, mit denen die Generationengerechtigkeit im Rentensystemen gestärkt werden soll. "Sie sind genauso daneben wie das Dauerfeuer seitens der Arbeitgeber, zum Beispiel Pflegekarenzzeiten einzuführen", sagte Fahimi. Über ein Fünftel der Pflegebedürftigen sterbe innerhalb der ersten zwölf Monaten. "Wer ein Karenzjahr vorschlägt, setzt darauf, dass tausende pflegebedürftige Menschen einfach sterben ohne Leistungen zu erhalten, und das, obwohl sie jahrelang in die Kassen eingezahlt haben", so die Gewerkschafterin. "Das ist perfide."
Kürzlich hatte die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) für eine radikale Pflegereform geworben. Dazu forderte die BDA auch ein Karenzjahr für Pflegebedürftige. Ziel sei es, Unternehmen und Beschäftigte als Beitragszahler zu entlasten. +++









and then
Hinterlasse jetzt einen Kommentar