Dehler: „Die SPD ist an der Kreuzung vom Irrweg zum Holzweg angekommen“

Interview zum Sonderparteitag der SPD

Politikberater Prof. Dr. Joseph Dehler.

Berlin/Fulda/Bonn. Nur noch einen Tag bis zum außerordentlichen Bundesparteitag der SPD in Bonn haben Martin Schulz und seine Gefährten Zeit, den Gegnern einer Neulauflage der Großen Koalition mit der CDU/CSU wenigstens so viel Wind aus den Segeln zu nehmen, dass es für einen GroKo-Mehrheitsbeschluss reicht. Das aber dürfte mit dem im Windschatten des Sturmtiefs „Friederike“ einhergegangenen neuerlichen Forsa-Umfragetief von 18 Prozent für die SPD nun noch schwieriger geworden sein. Wohin steuert die SPD?

Darüber sprach fuldainfo mit dem Politikberater Prof. Dr. Joseph Dehler.

fuldainfo

Auf dem Cover Ihres Buches „Nasentanz. Früchtchen aus dem Garten der Macht“ heißt es unter anderem: „Für den Nasentanz auf dem politischen Parkett benötigt man nicht nur Humor, sondern auch ein gerüttelt Maß an Leidensfähigkeit.“ Obwohl bereits über drei Monate nach der letzten Bundestagswahl vergangen sind, gibt es immer noch keine  gewählte Regierung. Nachdem Jamaika gescheitert ist, versucht des die C-Union jetzt mit der SPD. Tragen Sie das mit Humor oder müssen Sie Ihre Leidensfähigkeit beanspruchen?

Dehler

Abgesehen davon, dass es sich bei diesem Buch um eine Politsatire handelt: Zum Lachen jedenfalls ist mir gerade nicht zumute. Am besten wäre gewesen, wenn sich Union, FDP und Bündnis 90/Die Grünen zusammengerauft hätten und die SPD bei ihrer, nach der Wahl mit großem Getöse angekündigten Oppositionsrolle geblieben wäre. Bei allen Problemen, die mit Jamaika verbunden gewesen wären, hätte es vor diesem Hintergrund wenigstens gemeinsam mit den „LINKEN“ eine starke Opposition gegeben. Auch als Gegenpol zur AfD. In dieser Konstellation wären vor allem die für eine Demokratie lebenswichtigen politischen Kontraste besser sichtbar geworden. Deprimierend ist für mich, nun zusehen zu müssen, wie sich Angela Merkel mit aller Kraft in ihre vierte Amtszeit zu schleppen versucht. Wenn dies machtpolitisch gesehen auch noch so verständlich sein möge, schaurig ist auf jeden Fall, wie sich der Vorstand der SPD mit Martin Schulz an der Spitze vom Saulus zum Paulus gewandelt hat, und jetzt, koste es was es wolle, Angela Merkel künstlich am Leben erhalten will.

fuldainfo

Die SPD ist aus Ihrer Sicht also der seidene Faden, an dem Angela Merkel hängt?

Dehler

Das ist richtig. Noch viel tragischer allerdings ist, wenn wir schon beim Personalisieren sind, dass mit der Aufnahme der Sondierungsgespräche zwischen Union und SPD an diesem seidenen Faden auch Martin Schulz hängt.

fuldainfo

Soll heißen?

Dehler

Wenn der Sonderparteitag der SPD am Sonntag gegen die Aufnahme von Koalitionsgesprächen mit der Union votieren sollte, wäre dies dann zwangsläufig sowohl das Ende von Angela Merkel als auch von Martin Schulz. Deshalb muss dieser nun alles Erdenkliche dafür tun, dass er am Sonntag die Fahrkarte für weitere Verhandlungen mit der Union erhält. Aber auch, wenn er diese erhalten sollte, – eine neue GroKa wäre für die SPD der sichere Tod. Denn alles was hernach beschlossen und getan würde, wäre die goldene Feder am Hut der Union. Dabei muss man klar sehen, schon in den Sondierungsgesprächen hat sich gezeigt, dass die SPD kein tragendendes Leuchturmprojekt verhandeln konnte. Die Bürgerversicherung hätte ein solches sein können. Aber die war bereits abgeschmettert, bevor die Verhandlungen überhaupt begonnen hatten. Bei der 2013er GroKa war dies zumindest über lange Zeit tragend der sogenannte Mindestlohn, mit dem sich die SPD profilieren konnte.

fuldainfo

Welche Chancen hätte die SPD gehabt, sich aus dieser Affäre zu ziehen, und sich vorrangig der eigenen Erneuerung und Profilierung zuzuwenden. – Auf Neuwahlen hinzuarbeiten?

 Dehler

Auf Neuwahlen hinzuarbeiten, auf keinen Fall. Das wäre die denkbar schlechteste Lösung. Denn was wäre z.B., wenn es hinterher wieder eine Pattsituation gäbe? Nein, aber nach dem Scheitern von Jamaika hätte die SPD mit aller Kraft auf die Duldung eine Minderheitsregierung aus CDU/CSU und Grünen hinarbeiten, und sich nicht, wie wir jetzt beobachten können, ins eigene Elend hinein manövrieren sollen. Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, wer die SPD hier strategisch beraten hat. Alles, was sich da in den letzten Wochen aufgetan hat, ist jedenfalls erschreckend unprofessionell.

fuldainfo

Oh je! Eine Minderheitsregierung?

Dehler

Da Sie so kritisch nachfragen: Meinen Sie denn, Unruhe und Lebendigkeit würde dem Ansehen des Parlamentes schaden? Vielleicht wären dann wenigstens einmal wieder alle Plätze im Plenarsaal belegt. Das Parlament würde, gemessen an dem Trauerspiel der politischen Auseinandersetzung unter einer GroKo, erheblich aufgewertet. Wenn hierzu die Hürden des dritten Wahlgangs, wo der Kanzler oder die Kanzlerin dann mit einfacher Mehrheit gewählt werden kann, überschritten werden würden, spräche dies doch für ein wohlüberlegtes, parlamentarisches Geschäftsmodell. Gerade auch, wo SCHWARZ und GRÜN so gut miteinander konnten, um nicht polemisch zu werden.

fuldainfo

Meinen Sie, das könnte gut gehen?

Dehler

Na klar. Schwarz-Grün (dann als Minderheit) müsste sich themenbezogen Mehrheiten suchen. Dazu würde am Ende nicht einmal die AfD gebraucht. Kungelei, Einpeitschen und Stillhalten in Fraktion und Partei würden an Bedeutung verlieren. Die Regierung müsste anfangen, bei allen Fraktionen für ihre Konzepte und Projekte zu werben. Der Bundestag würde auf diese Weise enorm aufgewertet, die Debattenkultur und Öffentlichkeit gestärkt, ja sogar die Verschwörungstheorien in der AfD könnten so besser entlarvt und bekämpft werden.

Alles das ist nicht neu. Schauen wir beispielsweise nach Schweden, Spanien, Portugal, Dänemark und Norwegen. Auch in Berlin, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt gab es bereits Landesregierungen auf der Basis von parlamentarischen Minderheiten, die Gesetze verabschiedet und vieles mit Unterstützung der anderen Parteien bewegt haben. In aller Bescheidenheit kann ich hier auf eigene Erfahrungen in einer von der PDS tolerierten SPD-Minderheitsregierung in Sachsen-Anhalt unter Reinhard Höppner, einem gelernten Pfarrer, verweisen. Als Innovationsbeauftragter der Landesregierung um die Jahre 2000 herum musste ich alle meine Strategien, Konzepte und Projekte auf den parteiübergreifenden Prüfstand stellen. – Klar, bequem war das nicht. Ich behaupte aber im Nachhinein: In der Summe effektiver.

fuldainfo

Kommen wir noch einmal auf Martin Schulz zu sprechen: Im Mai letzten Jahres nach der für die SPD gescheiterten NRW-Wahl haben Sie in einem Interview mit fuldainfo empfohlen, Martin Schulz unverzüglich bzw. noch rechtzeitig vor der Bundestagswahl als Parteivorsitzender zu ersetzen. Wo steht die SPD heute mit Martin Schulz?

Dehler

Na gut. Jedenfalls seit dieser Zeit, erst recht nach der Bundestagswahl, befindet sich die SPD im Kreuzungsbereich vom Irrweg zum Holzweg. Auf dem Irrweg gibt es noch Auswege. Der Holzweg ist eine Sackkasse, aus der man nur rückwärts heraus kommt. Die SPD muss schnell entscheiden, wo sie hin will. Es wäre ihr zu wünschen, wenn sich die Delegierten auf dem Sonderparteitag am Sonntag gegen den eigenen Vorstand aussprechen und der GroKo eine klare Absage erteilen würde, auch wenn das für Martin Schulz nicht sonderlich gut wäre. Er könnte sich damit trösten, dass es der geschäftsführenden Bundeskanzlerin dann auch nicht anders gehen würde. Dafür hat die Wurst eben zwei Enden. Wobei wir noch gar nicht über Inhalte gesprochen haben.

fuldainfo

Wir danken Ihnen für das Gespräch. +++

Zur Person: Joseph Dehler war zwischen 1982 und 1994 Rektor der Hochschule Fulda. Seit dieser Zeit ist er in der Politik- und Innovationsberatung tätig. U.a. war er Regierungsbeauftragter für Innovation und Technologieentwicklung in Hessen sowie in ähnlichen Funktionen für die Bundesregierung und für die Landesregierung Sachsen-Anhalt tätig. Er kennt die Politik sowie die Wissenschafts- und Ministerialverwaltung von innen und außen. In der Region Osthessen hat er sich stark im Biosphärenreservat Rhön engagiert. 1998 war er Oberbürgermeisterkandidat in Fulda für SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Christliche Wählereinheit (CWE) mit Unterstützung der FDP. Im Dezember 2015 trat er anlässlich des Syrieneinsatzes der Bundeswehr nach 41 Jahren aus der SPD aus. Er ist Autor zahlreicher Bücher. In den letzten Jahren schrieb er vor allem Politsatire; darunter auch in der Reihe „Dehler unterwegs“ bei Fuldainfo. www.politikberatung-dehler.de