Vor 70 Jahren Neuanfang nach der Vertreibung

Lauterbach. Beim allmonatlichen Treffen der Sudetendeutschen am Dienstagabend in der Gaststätte „Felsenkeller“ erinnerte Siegbert Ortmann, der auch stellvertretender Bundesvorsitzender der Sudetendeutschen Landsmannschaft ist, an seine eigene Ankunft vor 70 Jahren als damals 6-jähriger sudetendeutscher Heimatvertriebener aus dem Egerland in der oberhessischen Kreisstadt Lauterbach.

Am 12. Februar 1946 kam er mit dem ersten, für den Regierungsbezirk Darmstadt bestimmten Transportzug aus dem ehemaligen Sudetenland in Begleitung seiner Mutter und 2 Geschwistern sowie weiteren rund 1200 Personen auf dem Nordbahnhof in Lauterbach an. In 30 ungeheizten, lediglich mit Stroh ausgelegten Güterwaggons waren je 40 Personen eingepfercht, überwiegend Frauen und Kinder und nur wenige ältere Männer. Dieser Bahntransport überfuhr tags zuvor die tschechoslowakische Grenze bei Fuhrt im Wald in den Westen und wurde schließlich von der amerikanischen Besatzungsbehörden dem Zielbahnhof Lauterbach in Hessen zugewiesen. Für die meisten angekommenen Heimatvertriebenen war dann aber Lauterbach nur Durchgangsstation. In der Folgezeit hatte der ehemalige Landkreis Lauterbach noch insgesamt 48 Transporte aufzunehmen bzw. durchzuschleusen. So passierten dieses Auffang- und Verteilungslager in Lauterbach insgesamt rund 36500 Heimatvertriebene zum Weitertransport in das ganze Land. Lediglich rund 13000 Heimatvertriebene verblieben im Altkreis Lauterbach, wie sich aus einer Aufzeichnung des damaligen Flüchtlingsamt ergibt: Stand der Kreisbevölkerung am 1. 9.1939 33712 Personen; am 1. 3. 1947 49335 Personen; Bevölkerungszunahme bis zum 1. 3. 1947 15623 Personen.

Aus dem behördlichen Bericht ist weiter zu entnehmen, dass durch die Aufnahme von genau 12331 Heimatvertriebenen, zu 80% aus dem Sudetenland, und zusätzlich 5009 Evakuierten und Ausgebombten, überwiegend aus den kriegszerstörten Städten, Frankfurt, Darmstadt, Offenbach und Gießen, letztendlich eine Bevölkerungszunahme von 54,2 % im Kreisgebiet zu verzeichnen war. In diesem Zusammenhang ist auch ein archivierten Bericht des Flüchtlingsamtes vom 17. März 1947 zur allgemeinen Lage im Altkreis Lauterbach sehr interessant, in dem es wörtlich heißt:„ Das schwierigste Problem, nämlich die Seßhaftmachung und Existenzbeschaffung konnte bis jetzt noch nicht gelöst werden. Die wirtschaftlich schlechte Lage des Vogelsberges, bedingt durch das Fehlen jeglicher größerer Industrie, und die kleinen landwirtschaftlichen Betriebe, um die es sich im Vogelsberg in der Hauptsache handelt, sind nicht in der Lage, den vielen Neubürgern ständige Arbeit zu geben“. Und zum damaligen Wohnungsproblem heißt es weiter: „ Im allgemeinen ist festzuhalten, dass die Unterbringung eines Teils der Neubürger nicht als menschenwürdig bezeichnet werden kann. Dass alle Säle des Kreises beschlagnahmt und gegebenenfalls zu Wohnzwecken nutzbar gemacht werden müssen, beleuchtet das schwierige Wohnungsproblem, in dem sich der Kreis Lauterbach befindet“.

Und ein anderer Lagebericht des staatlichen Gesundheitsamtes Lauterbach vom 19.3.1947 beschreibt die damals verheerende Situation u.a. wie folgt: „ Die allgemeine Lage des Deutschen Volkes ist gekennzeichnet durch Not auf allen Gebieten. Not herrscht vor allen Dingen auf dem Gebiet der Versorgung mit Lebensmitteln, Brennmaterial, Leib- und Bettwäsche, Kleidung und Schuhwerk. Die allgemeine Ernährungslage ist katastrophal. Bei den vorgenommenen Untersuchungen finden sich häufig Menschen, die fast zum Skelett abgemagert sind“. Eine zusätzliche Besonderheit im allgemeinen Erscheinungsbild über die damalige Situation gab es auch: Die neue, ungewohnte Nachbarschaft zu den angekommenen Neubürgern führte sehr oft dazu, dass die Altansässigen die Vertriebenen gerne abfällig nach ihrer Herkunft aus vermeintlich unzivilisierten Ländern im Osten beurteilten und sogar mit entsprechenden Spitznamen und Spottbezeichnungen auf das Empfinden der gestörten sozialen Ordnung über Jahre hinweg reagierten.

Siegbert Ortmann sieht in den zitierten behördlichen Lageberichten aus dem Jahre 1947 mit den klaren Situationsbeschreibungen jener Zeit nicht nur für die Betroffenen durchaus vergleichbare Ansätze zu einem besseren Verständnis über die heutige Flüchtlingskrisenbewältigung in unserer Region. Ungeachtet dessen erscheint es für ihn aber heute umso bewundernswerter, mit welcher Zähigkeit, mit welchem Lebensmut und mit welchem Fleiß die damals hier sesshaft gewordenen Heimatvertriebenen daran gingen, sich hier ihre eigenen Lebensmöglichkeiten zu schaffen. Ohne Unterschied des Berufes und des Standes arbeiteten sie sofort nach ihrer Ankunft im Steinbruch, als Waldarbeiter, als Bauhilfsarbeiter und landwirtschaftlicher Helfer und brachten mit ihrer ungebrochenen Arbeitskraft, einen ungeheuren Leistungswillen, hervorragenden handwerklichen Kenntnissen und Fertigkeiten, neue Ideen und auch die Kraft zum Wagnis mit. Auf diese bemerkenswerten Gegebenheiten der Nachkriegs-Eingliederung von rund 13000 Heimatvertriebenen im Vogelsberg sollten wir uns heute, und nicht nur die Betroffenen, auch nach 70 Jahren immer wieder erinnern, damit jene beispielhaften Vorgänge nicht in Vergessenheit geraten, mahnte Ortmann seine Zuhörer an. +++ fuldainfo

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