
„Europa allein zu Haus.“ Ist dieser Gedanke, mit dem Brigadegeneral a.D. Rainer Meyer zum Felde seinen Vortrag vor Mitgliedern und Gästen der Fuldaer Sektion der Gesellschaft für Sicherheitspolitik (GSP) überschrieben hatte, mit einem Fragezeichen oder vielmehr mit einem Ausrufezeichen zu versehen?
Trump steht zur NATO
Derjenige, der an eine einfache, eindeutige Antwort glaubt, irrt. „Wir werden das Beste hoffen, aber mit dem Schlechten rechnen müssen“, beschreibt Meyer zum Felde die gegenwärtige Lage des transatlantischen Verhältnisses. Völlig alleine steht Europa nicht da. Immerhin habe sich US-Präsident Donald Trump während des letzten NATO-Gipfels vom Juni dieses Jahres zum Bündnis bekannt. Allerdings mit klaren Forderungen an die Partner wie der deutlichen Erhöhung der Wehretats, die NATO-Generalsekretär Mark Rutte künftig in Höhe von fünf Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) der jeweiligen Mitgliedstaaten auch zusicherte. Die europäischen Partner, insbesondere Deutschland, müssen vor diesem Hintergrund ihre Hausaufgaben nun rasch und konsequent erledigen. Nur so lässt sich der Gefahr, die von Russland (oder anderen möglichen Gegnern) jetzt oder künftig ausgeht, begegnen. Für Meyer zum Felde besteht kein Zweifel an der Notwendigkeit, dass „die Selbstbehauptungsfähigkeit Europas steht und fällt mit dem Fortbestand einer abschreckungsfähigen NATO und dabei insbesondere mit der Wehrhaftigkeit Deutschlands.“
Russland Gegner statt Partner
Was bedeutet das für Deutschland und die Bundeswehr konkret? „Unsere strategischen Grundlagen sind korrekturbedürftig!“, urteilt der Referent. Die Grundannahmen der Jahre 1990 bis 2013 hätten sich „als teilweise falsch“ erwiesen. Die Weltordnung habe sich von bipolar (1945 bis 1989) und unipolar (1990) inzwischen zu multipolar gewandelt mit Playern wie USA, China, Russland, Indien. Nun stelle sich die Frage: „Wo steht Europa?“ Putins Russland sei Gegner geworden, nicht Partner. Seit März 2014 habe sich das Land als „revisionistische Großmacht und potentielle militärische Bedrohung NATO-/EU-Europas erwiesen.“ China unter Präsident Xi Jinping sei inzwischen „Systemrivale“ auf dem Weg zur Weltmacht und werde „aufgrund zunehmender Unterstützung Russlands zum potentiellen Gegner.“ Sowohl Russland als auch China agierten gemeinsam gegen den Westen. Durch die Zusammenarbeit Russlands mit China, darüber hinaus mit dem Iran und Nordkorea, formiere sich eine anti-westliche Gegen-Allianz!
Fest stehe auch: Die USA schützen Europa nicht mehr unkonditioniert. „Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, sind ein Stück weit vorbei“, betont Meyer zum Felde und rät dringend, „wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in die eigene Hand nehmen“. Allerdings sei die EU noch „kein geopolitischer Akteur auf Augenhöhe.“
Sicherheitsordnung zerstören
Russlands revisionistische Haltung versucht der Referent mit einer Äußerung des russischen Präsidenten aus dem Jahr 2005 zu erklären. Für Putin sei „der Zerfall der Sowjetunion die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ gewesen. Sein Angriffskrieg gegen die Ukraine ziele auf die Zerstörung der europäischen Sicherheitsordnung. Putins eigentliche Ziele seien bereits in den Ultimaten an die USA und NATO mit dem Verbot neuer NATO-Mitgliedschaften – etwa für die Ukraine und Georgien - vom Dezember 2021 deutlich geworden. Außerdem habe Wladimir Putin den Rückzug der NATO-Infrastruktur auf die Linien von 1997 (vor dem Beitritt Polens, Tschechiens, Ungarns) und den Abzug von U.S - Nuklearwaffen aus Europa gefordert.
Die Folgen: Sicherheit sei künftig nicht mehr mit, sondern nur vor/gegen Russland möglich. Die Ukraine müsse um ihre Existenz kämpfen, während sie zugleich die Sicherheit Europas verteidige.
Fehler korrigieren und NATO-Rückgrat bilden Die geopolitische Großmächtekonkurrenz verlange einen Wechsel von „Wunschdenken zu Realismus.“ Daraus schlussfolgert Meyer zum Felde, dass drei Hauptfehler aus der Vergangenheit endlich korrigiert werden müssten: „Das Outsourcing unserer Sicherheit an die USA, die Abhängigkeit unserer Energieversorgung von Russland sowie die Ausrichtung unserer Industrie- und Handelsbeziehungen auf China.“ Für ihn steht zweifelsfrei auch fest, dass Deutschland in Europa die „angestammte Rolle als Rückgrat der konventionellen NATO-Abschreckungs- und Bündnisverteidigung“ übernehmen müsse. Das erfordere die „Herstellung von Kriegstüchtigkeit von Bundeswehr, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft!“ Ziel sei die Fähigkeit zur zivilen und militärischen Gesamtverteidigung bis 2027/2029. Für Meyer zum Felde bleibt jedoch ein Problem weiterhin bestehen: „Deutschland benötigt entweder eine glaubwürdige Fortsetzung des nuklearen Schirm der USA – oder den Ersatz hierfür!“
Europäischer werden, aber atlantisch bleiben
„An Europas Peripherie müssen wir weiterhin zu Krisenmanagement fähig bleiben“, betont der Referent ferner. Weltweit sei Deutschland zur „Wahrung der internationalen regelbasierten Ordnung gefordert.“ In NATO und EU müsse die Bundesrepublik deshalb eine Co-Führungsrolle einnehmen, gemeinsam mit Frankreich und Großbritannien - mit allen herausgehobenen Lasten, Risiken und Pflichten und sich „dabei in den „Mainstream“ einfügen. Das bedeute zugleich, „keine romantisch-naiven deutschen Sonderwege zu gehen!“ „Wir müssen europäischer werden, aber auch atlantisch bleiben“ und damit wichtigster Verbündeter der USA, bekräftigt Meyer zum Felde.
Abschreckung wiederherstellen
Was bedeutet das konkret für Deutschland in der NATO? Aus Sicht des Referenten die Rückbesinnung auf bewährte Prinzipien. Vor allem die Abschreckung potenzieller Gegner müsse wiederhergestellt werden. Diese Abschreckung setze jedoch „Kriegstüchtigkeit und Verteidigungsfähigkeit voraus!“ Glaubwürdige Wehrhaftigkeit fordere alle: Staat, Gesellschaft und Wirtschaft. Um mit Blick in die Zukunft erfolgreich zu sein, gelte es, den möglichen Gegner diplomatisch, rüstungsindustriell, militärisch operativ sowie technologisch zu übertreffen. Von herausragender Bedeutung sei deshalb die Erfüllung der NATO-Verteidigungsplanungsziele. Konkret: Der Friedensumfang der Bundeswehr müsse auf mindestens 250,000 Mann erhöht werden, der Verteidigungsumfang auf mindestens 500.000 Mann. Vor diesem Hintergrund sei es auch notwendig, die Wehrstruktur zu revidieren. Die Wehrpflicht sei „unverzichtbar für Friedensumfang, Aufwuchsfähigkeit und Wehrersatz.“ Ferner müsse es zu einem „Mindset Change“ kommen: Von „Retten-Bergen-Schützen- Helfen-Vermitteln“ des Internationalen Krisenmanagements zu Kriegstüchtigkeit, Kampffähigkeit und Willen zur Umsetzung. Diese Umsetzung der Ziele sei „jetzt eilbedürftig“ und müsse in den nächsten drei bis fünf Jahren ab 2024 erfolgen!
Konsequenzen für Deutschlands Bündnispolitik: „Deutschland und Europa haben ihre Zukunft in der eigenen Hand“, so das Fazit des Referenten. Nun läge es an ihnen, zu gestalten oder gestaltet zu werden, geopolitischer Akteur am Tisch zu sein – oder bildlich gesprochen - „auf der Speisekarte“ zu stehen.
Wehrhaftigkeit notwendig
Von den denkbaren bündnispolitische Handlungsoptionen hält der frühere General die der Abschreckung und Verteidigung im Rahmen der NATO, komplementär zur EU, für die beste. Deutlich unterstreicht der Referent deshalb noch einmal den Satz, dass „die Selbstbehauptungsfähigkeit Europas steht und fällt mit dem Fortbestand einer abschreckungsfähigen NATO und dabei insbesondere mit der Wehrhaftigkeit Deutschlands.“ Ohne Deutschland in seiner „Doppelfunktion als logistische Drehscheibe und Rückgrat der kollektiven Vorneverteidigung besteht keine Aussicht auf erfolgreiche NATO/EU-Bündnisverteidigung und damit auch keine kriegsverhütende Abschreckung.“
Kenner der Materie
Mit seiner realistischen „Bestandsaufnahme“ und seinen klaren Schlussfolgerungen habe Meyer zum Felde sich als „wirklicher Kenner der Materie erwiesen“, betont Fuldas GSP-Sektionsleiter Michael Schwab. Der frühere Brigadegeneral der Bundeswehr und heutiges Vorstandsmitglied der GSP war unter anderem deutscher Repräsentant im NATO-Ausschuss für Verteidigungspolitik und Planung gewesen, in dem die Neuausrichtung der Allianz („NATO-Adaption“) und die maßgeblichen Gipfeltreffen von Wales und Warschau konzeptionell erarbeitet worden waren. In seinem Referat „Europa allein zu Haus“ habe er sehr deutlich die Rolle der NATO und Amerikaner in Vergangenheit und Zukunft beschrieben.
Schnell und konsequent reagieren
Die Freiheit im Westen, so Schwab, sei im Kern den Amerikanern zu verdanken, die durch die NATO und ihr hohes eigenes personelles und finanzielles Engagement acht Jahrzehnte lang maßgeblich dazu beigetragen hätten, dass „wir bis heute in Frieden Freiheit und Sicherheit leben können. Aber wir alle haben auch mitbekommen, dass der amtierende US-Präsident andere Schwerpunkte setzt und im Rahmen der NATO weniger ausgeben will.“ Er verlagert zunehmend die Leistungen und Lasten der Verteidigung und Sicherheit auf Europa und die Europäer selbst. Dadurch entstehe für alle Partner, gerade auch für Deutschland, eine seit dem Ende des Ost-West Konflikts in den 90er Jahren nicht mehr dagewesene Herausforderung. „Wir wollen und werden deshalb mehr für unsere Verteidigung und Sicherheit tun müssen – und zwar schnell und konsequent, um in allernächster Zukunft den Gefahren durch potenzielle Gegnern erfolgreich begegnen zu können.“ +++ ms
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