Waigel: Die Einheit ist ihren Preis wert

Ökumenischer Gottesdienst am „Tag der Deutschen Einheit“ auf Point Alpha

Wortgewandt und wortgewaltig: Dr. Theo Waigel hielt die Festrede zum “Tag der Deutschen Einheit” in der Gedenkstätte Point Alpha.

Mit einem Festakt und einer Kranzniederlegung feierte die Point Alpha Stiftung in der Gedenkstätte Point Alpha an der hessisch-thüringischen Landesgrenze 31 Jahre Deutsche Einheit. Der Einigungsvertrag war am 3. Oktober 1990 offiziell in Kraft getreten. Die Nachkriegszeit war endgültig beendet, ein historischer Wendepunkt für Deutschland und der Beginn einer neuen Ära für Europa und die Welt. Festredner am Samstag war der ehemalige Bundesfinanzminister Dr. Theo Waigel, als Mitgestalter und prägende Figur zweifelsohne einer der prominentesten Zeitzeugen der Deutschen Einheit.

Waigel würdigte die Wegbereiter und Unterstützer des Einigungsprozesses. Er erinnerte an die Bewegungen in Polen, Ungarn und in der Tschechoslowakei sowie an die Friedliche Revolution in der DDR, als Menschen mit Kerzen in der Hand gegen das SED-Regime protestierten. Mit einem Blick hinter die Kulissen ließ er Begebenheiten und Begegnungen aus der Zeit der Umbrüche Revue passieren. Es habe keinen besseren Verbündeten als die USA mit Präsident George Bush sen. gegeben und Michail Gorbatschow habe in der Sowjetunion einen Machtverlust in Kauf genommen, statt seine Politik von Glasnost und Perestroika aufzugeben. Er habe Bundeskanzler Helmut Kohl und Willy Brandt mehr vertraut als Erich Honecker. Als Finanzminister machte Waigel sich an die Bewältigung der Aufgabe, die staatliche Einheit wiederherzustellen und eine zentral gelenkte Planwirtschaft in eine Wirtschaft zu transformieren, die den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft folgt. Dafür gab es weder Lehrbücher noch Vorbilder. „Die Wiedervereinigung hat länger gedauert und war teurer als angenommen. Aber sie ist ihren Preis wert. Die Herstellung der Deutschen Einheit ist die größte Solidaraktion auf deutschem Boden gewesen. Dafür ist ganz Deutschland jetzt demokratisch und ein Sicherheitsanker im Westen und in der Nato. Wir können glücklich sein über das, was sich damals ergeben hat und bis heute fortwirkt. Dieser 3. Oktober 2021 ist ein Tag des Glücks und der Dankbarkeit.“ Für seine Rede, die wie von ihm gewohnt mit humorvollen Anekdoten garniert war, erhielt der 82-Jährige viel Beifall.

„Traditionell wollen wir hier an der historischen Grenze zwischen Freiheit und Unfreiheit gedenken, erinnern und den Raum für Begegnungen schaffen. Der 3. Oktober ist nicht nur der wichtigste gesamtdeutsche Feiertag, sondern ein Freiheitstag für Deutschland, der nie in Vergessenheit geraten darf “, sagte der Stiftungsratsvorsitzende Dr. Stefan Heck bei der Begrüßung der Gäste aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kirche im ehemaligen US Camp und skizzierte dabei den Prozess zur Wiedervereinigung. Das Wissen über Freiheit, Frieden, Demokratie, Menschenrechte und Völkerverständigung bekomme man nicht geschenkt, man müsse es lernen. Die Point Alpha Stiftung wolle einen Beitrag dazu leisten, dass sich mündige Bürger für unsere freiheitliche Demokratie einsetzen und eine aktive Rolle in Politik und Gesellschaft übernehmen. Heck, der als Staatssekretär zugleich als Vertreter der Hessischen Landesregierung sprach, übermittelte die Grüße von Ministerpräsident Volker Bouffier. In diesem Jahr blicke man auch auf 75 Jahre Hessische Verfassung. Für das Leben in Freiheit in Hessen sei man den amerikanischen Partnern für die Entstehung der demokratischen Kultur und das großartige Engagement zu großem Dank verpflichtet.

„Gemeinsam sind wir stärker“, zu diesem Schluss kam Brigadegeneral Jed J. Schaertl, von der U.S. Army Europa und Afrika, und betonte, dass die USA weiterhin als verlässlicher Verbündeter zur Sicherheit Europas beitrage und die gemeinsamen Werte verteidige. Für ihn sei Point Alpha nicht nur ein Symbol für die Überwindung der deutschen Spaltung, sondern stehe auch für die Anerkennung des Dienstes der stationierten US-Regimenter für Frieden und Demokratie. Er lobte, dass engagierte Menschen nach Ende der militärischen Mission an der Grenze, die Initiative ergriffen haben, diesen Ort zu erhalten. Schließlich rekapitulierte Sebastian Leitsch, Vorstandsvorsitzender der Point Alpha Stiftung, die Herausforderungen für die Gedenkstätte in den zurückliegenden Monaten. Durch den Lock-Down habe das Team die Gedenkstätten- und Akademiearbeit neu denken und die Kompetenzen in der digitalen Welt deutlich erweitern müssen. Dabei sei bewusst geworden, dass man Online zwar ein großes Publikum erreichen könne, aber es nur begrenzt gelänge, die Zuhörenden so bewegend anzusprechen, wie dies direkt vor Ort in der Gedenkstätte möglich sei.

„Wir haben die Zwangspause genutzt, um unsere Inhalte weiterzuentwickeln“, so Leitsch und führte als Beispiele den neuen Themenbereich „Geschleifte Höfe“ und die Erweiterung der Ausstellung zum Kalten Krieg an. Stolz sei die Point Alpha Stiftung auf die Sonderausstellung „70 Jahre im Einsatz – Vom Bundesgrenzschutz zur Bundespolizei“, die im US Camp noch bis zum 30. November zu sehen ist. Mit einem Blick auf die Folgen des Mauerbaus und des Ausbaus der Grenzanlagen sowie den menschlichen Schicksalen bei den Zwangsaussiedlungen im Grenzgebiet vor 60 Jahren hobt Leitsch hervor, dass man das Einstehen für die richtigen Werte, wie zum Beispiel die universellen Menschenrechte, vor allem am authentischen Geschichtsort Point Alpha lernen könne. Bis es soweit war, dass „zusammenwuchs, was zusammengehörte“, waren über 40 Jahre lang viele Opfer zu beklagen, an die bei der Kranzniederlegung unter Mitwirkung der Kyffhäuser- und Reservistenkameradschaft Grüsselbach mit dem Vorsitzenden Alfred Gollbach an der Spitze im Vorfeld am Denkmal der deutschen Teilung und der Wiedervereinigung gedacht wurde. Musikalisch umrahmt wurde der Festakt durch das Blechbläserensemble des hessischen Landespolizeiorchesters unter der Leitung von Gerhard Schultheis, das mit Stücken wie „Trumpet Voluntary“, „Circle of life“ oder „The Liberty Bell“ unterhielt.

Ökumenischer Gottesdienst am „Tag der Deutschen Einheit“ auf Point Alpha

Die Deutsche Einheit und ihre Bedeutung für die Entwicklung von Deutschland und Europa werden an kaum einem anderen Ort in Hessen und Thüringen so deutlich wie auf Point Alpha. Von der „3. Oktoberfreude“ sprach deshalb der evangelische Regionalbischof Propst Tobias Schüfer aus Meiningen in seiner Festpredigt beim Ökumenischen Gottesdienst am „Tag der Deutschen Einheit“ im US Camp der Gedenkstätte Point Alpha. „Mit dem Blick auf das Unrecht der Vergangenheit kann mit großer Dankbarkeit auf die Gegenwart geschaut und mit Vertrauen auf Gott ein versöhnliches, friedliches Miteinander in der Zukunft geschaffen werden“, predigte der Bischof. Gezielt hatte Schüfer seine Ausführungen mit Bezug auf die biblische Bergpredigt von Jesus unter das Thema „Sicher im Land wohnen“ gestellt, da genau vor 60 Jahren im Sperrgebiet mit der „Aktion Kornblume“ viele DDR-Bürger willkürlich durch das damalige SED-Regime umgesiedelt worden waren. Die Besucher waren beeindruckt und bewegt, vor allem als Marie-Luise Tröbs im Zwiegespräch mit dem Bischof die dramatischen Erlebnisse schilderte, als sie im Alter von zehn Jahren mit ihrer Familie aus Geisa zwangsausgesiedelt wurde. Ihre Wurzeln wurden ohne Vorankündigung gekappt und ein sicheres Wohnen im Land war unmöglich geworden. So wie ihr erging es vielen Menschen entlang der Innerdeutschen Grenze und noch längst sind nicht alle Zwangsaussiedlungen aufgearbeitet. „Biografien wurden auf einen Schlag verändert, wie auch Orte und Kirchengemeinden. Darüber darf kein Gras wachsen. Wir müssen uns trauen zu reden und auch die eigene Schuld zu erkennen, es muss schonungslos aufgearbeitet werden“, forderte Schüfer. Der anschließend hervorhob, dass Versöhnung möglich sei und sie zum Kern des christlichen Glaubens gehöre. An seiner Seite hatte Schüfer die Konzelebranten Pater Binesh Mangalan und Dechant Markus Blümel für das Dekanat Hünfeld-Geisa, Pfarrer Harald Krüger vom evangelischen Pfarramt Vorderrhön Hohenroda sowie Pfarrer Alfred Spekker, amtierender Superintendent des Kirchenkreis Bad Salzungen Dermbach. Zu Beginn hatte der Vorstandsvorsitzende der Point Alpha Stiftung Sebastian Leitsch die Besucher begrüßt und noch einmal die Dankbarkeit für 31 Jahre Deutsche Einheit herausgestellt. Mit den Einnahmen der Kollekte wird die wertvolle Arbeit der Tafeln in Hünfeld und Bad Salzungen unterstützt. Mit Gesang und E-Orgel trugen Rebecca und Ulrich Göb zur feierlichen, musikalischen Gestaltung des Ökumenischen Gottesdienstes bei. Der traditionelle Familientag im Anschluss an den Gottesdienst musste coronabedingt noch einmal entfallen. Die angebotenen Führungen durch die Ausstellungen der Gedenkstätte Point Alpha wurden sehr gut angenommen. +++ pm