
Wo heute Naturidylle herrscht, war einst ein Ort der Angst und Kontrolle: Entlang des ehemaligen innerdeutschen Grenzstreifens erzählen nur noch spärliche Reste von einer dunklen Zeit. Doch ein Theaterprojekt der Wigbertschule Hünfeld bringt das Vergangene eindrucksvoll zum Klingen – und gibt den "geschleiften Höfen" des DDR-Sperrgebiets ihre Stimme zurück. In Zusammenarbeit mit dem Landestheater Eisenach sowie den Point-Alpha-Mitarbeiterinnen Aline Gros und Daniela Theurer haben Schülerinnen und Schüler ein Stück entwickelt, das gleichermaßen dokumentiert, erinnert und bewegt. Die Grundlage: das Buch „Zur eigenen Sicherheit?“ von Wolfgang Christmann und Bruno Leister, das die Geschichte zwangsumgesiedelter Familien und abgerissener Höfe im Geisaer Amt nachzeichnet.
Die Bühne: ein Ort voller Geschichte
Aufführungsort ist kein gewöhnlicher Theaterraum, sondern die ehemalige Fahrzeughalle im US-Camp Point Alpha – einst westlicher Beobachtungsposten direkt am Eisernen Vorhang. Die Atmosphäre ist dicht: Eine Leinwand teilt den Raum in Ost und West, das Publikum sitzt nah am Geschehen. Es herrscht gespannte Stille, als das erste Bild erscheint: der Fischerhof – ein Ort, den es heute nicht mehr gibt. Doch plötzlich spricht dieser Ort – durch die Stimmen der Jugendlichen. Sie berichten von der Familie Bednarek, die 1952 unter dem Druck der DDR-Staatsmacht fliehen musste. Weitere Orte folgen: die Buchenmühle, die Ziegelei Wenigentaft. Namen, die für viele im Publikum Erinnerungen wecken – und für die jungen Darsteller zu Stimmen der Geschichte werden.
Reduziert – und gerade deshalb stark
Was auf der Bühne passiert, ist mehr als reines Theater. Mit einfachsten Mitteln – Bierbänke als Stacheldraht, eine Leiter als Ausguck – entstehen eindrucksvolle Bilder. Die Jugendlichen stehen hinter der Leinwand, unsichtbar, doch ihre Stimmen füllen den Raum: warm, eindringlich, erschütternd. Maschinen stampfen in der Ziegelei, Kinderlachen hallt über den Hof – und dann wieder bedrückende Zitate aus DDR-Akten, nüchtern, kalt. Der Kontrast ist gewollt. Die Inszenierung lebt von der Spannung zwischen Menschlichkeit und Bürokratie, zwischen Erinnerung und offizieller Geschichtsschreibung. Die Grenze wird nicht nur gezeigt – sie wird spürbar. Emotional, nah, greifbar.
Ein Projekt gegen das Vergessen
Der historische Ort Point Alpha, heute Mahnmal und Bildungsstätte, bietet den perfekten Rahmen für dieses Projekt. Während die Zeitzeugen weniger werden und die Spuren der Teilung langsam verblassen, zeigt die Aufführung, wie junge Menschen Verantwortung übernehmen: für die Geschichte ihrer Region, für das Bewahren kollektiver Erinnerung. „Das war kein einfacher Stoff“, sagt eine Besucherin nach der Vorstellung, „aber die Schüler haben es mit Würde und Tiefe erzählt.“ Am Ende gibt es langen Applaus – nicht nur für eine gelungene Aufführung, sondern für einen Akt gelebter Erinnerungskultur.
Dialog zwischen den Generationen
Im Anschluss signieren die Autoren Christmann und Leister ihr Buch und kommen ins Gespräch mit Schülern und Gästen. Es geht um Verantwortung, um die Macht der Erinnerung – und um die Frage, wie man Orte bewahren kann, die längst verschwunden sind. Die Antwort geben an diesem Abend die Jugendlichen der Wigbertschule: mit Mut, Kreativität und einer beeindruckenden Ernsthaftigkeit. Sie lassen Orte sprechen, die längst zum Schweigen gebracht wurden – und erinnern daran, dass Geschichte dort beginnt, wo Menschen bereit sind, hinzuhören. +++
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