SPD = 18 Prozent – X

Von Hardy Koch

Fulda. Vom Hochamt mit Nebelkerzen bis zum Abgesang in einer inhaltsleeren Zeit waren es gerade mal 12 Monate. Nicht jede Organisation schafft es, sich selbst so schnell ins Abseits zu stellen. Als Anfang 2017 auf dem Krönungsparteitag der SPD der neue Vorsitzende und Kanzlerkandidat mit 100 % der möglichen Stimmen nominiert wurde, ohne auch nur ein Wahlprogramm zu verabschieden, das diesen Namen verdient hätte, war der Niedergang dieser traditionsreichen Programm-Partei bereits in seiner Endgültigkeit vorprogrammiert. Danach folgten drei verlorene Landtagswahlen und sechs Monate „politische“ Enthaltsamkeit, die mit 20,5 % noch großzügig vom Wähler honoriert worden sind.

Das Wahlprogramm kam eine Woche vor Beginn der Sommerferien zu spät, um es an Strandbars oder auf Gebirgswanderwegen ernsthaft diskutieren zu können. Viel Substanzielles gab es ohnehin nicht zu erörtern. Bei moderner Parteitagsregie kommt die Form vor dem Inhalt und Personal-Marketing vor Glaubwürdigkeit. Das Spektakel steht vor dem Programm. Neben vielen Fehleinschätzungen und -entscheidungen in Haushalts-, Umwelt-, Arbeitsmarkt- und Finanzfragen ist es auch die aggressive Außenpolitik, die den Fortbestand der SPD schrittweise obsolet macht. Zum Mitschreiben: Wer sozialen Frieden nach innen und außen nicht will, und gesellschaftlichen Wohlstand und Teilhabe nicht allen Mitgliedern der Gesellschaft zu Gute kommen lassen will oder kann, der verhält sich auch außenpolitisch aggressiv. Als Grundlage für eine aggressive Arbeitsmarkt- und Außenpolitik bedarf es eines negativen Menschenbildes auf der Ebene von Verachtung und Geringschätzung. Doch Aggressivität gegenüber den eigenen Bürgern und Nachbarn unter dem Vorwand des Wettbewerbs widerspricht elementar dem Grundgedanken der Sozialdemokratie. Dazu später mehr.

Was sich alles hinter Wettbewerb verbirgt

Niemandem ist es nachweislich gelungen, die neu gestrickte SPD darauf aufmerksam zu machen, was sich so alles hinter dem Begriff Wettbewerb verbirgt und verbergen lässt. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen – so das Mantra eines ehemaligen SPD Vorsitzenden und Arbeitsministers. Der wusste zwar nicht, wie man unter akzeptablen Bedingungen Arbeit schafft, aber dafür, wie man die Leidtragenden für das eigene ‚Fehlverhalten‘ bestrafen kann. Die Inquisition hat von der SPD Besitz ergriffen. Man verlangt von denjenigen, denen man keine anständigen Angebote auf dem Arbeitsmarkt mehr machen wollte, das nicht vorhandene Angebot in Form individueller Selbstoptimierung selbst zu schaffen. Nach Einschätzung der „modernisierten“ Sozialdemokratie ist es also möglich, dass jeder Einzelne sich den Kräften gesamtwirtschaftlicher Wirkungsmechanismen erfolgreich entgegenstellen kann.

Offensichtlich aber hat die SPD aber ihr gesellschafts- und arbeitsmarktpolitisches Konzept von der individuellen Selbstoptimierung nicht wirklich verstanden. Absturz von 40 % auf 20 % – Tendenz fallend. So sieht kein erfolgreicher Praxistest für eine „Theorie“ aus. Deshalb wohl auch der verzweifelte Versuch der Parteiführung, sich in eine GroKo vor Neuwahlen zu flüchten. Wenn man zu spät bemerkt, dass das Konzept der Selbstoptimierung in einer modernen, hoch arbeitsteiligen Industrie- und Wissensgesellschaft gar nicht funktionieren kann, erreicht man schnell selbst den prekären Status, den man unzähligen Niedriglöhnern und -rentnern bewusst zumutet. Angebotsorientierte Politik funktioniert erst recht nicht, wenn man als vermeintlich sozialdemokratische Partei gar kein Angebot hat. Jedenfalls keines, das dem Bürger und Wähler von sozialdemokratischer Glaubwürdigkeit überzeugen könnte. Das eigene Scheitern ist der Nachweis für falsche theoretische Annahmen. Dafür hat die SPD nachgewiesen, dass übertriebe Selbstoptimierung über den Prozess der Selbstverleugnung zur Selbstzerstörung führt. An dieser Stelle kann man von Gesetzmäßigkeit sprechen.

Karriere kann man auch woanders machen

Ein gutes Beispiel ist etwa das im vorliegenden Sondierungspapier präferierte Drei-Säulen-Modell und die weitere Förderung der privaten Vorsorge: Dazu braucht es die SPD eigentlich gar nicht. Das schaffen die Unions-Parteien auch so. Doch in Zeiten rückläufiger Wahlkampfkostenerstattung springt der ein oder andere Versicherungsriese womöglich gerne ein, wenn er dafür die Bürgerversicherung für die SPD neu konzipieren darf. Sponsoren muss man nur pfleglich behandeln. Die Verknüpfung „guter Ideen“ mit Geldgebern, die sich davon Vorteile erhoffen, hat in der SPD ja mittlerweile Tradition: Riesterrente und „Betriebsrente“ lassen grüßen. Und wie war das noch mit der Metall-Rente? Warum also nicht gleich der Ersatz des SPD-Präsidiums durch Persönlichkeiten aus der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM)? Persönlichkeiten, die sich auch polit-ökonomisch klar zuordnen lassen. Da weiß man was man hat, nämlich Vertreter aus einer Wirtschaft, von deren Zusammenhängen die SPD zwar nichts mehr versteht, für die sie aber viel Verständnis hat. Wenn man schon dabei ist: Zu welchem Zweck braucht eine Partei ohne erkennbaren Körper eigentlich Flügel? Auf eine pseudo-plurale Politsauce kann man gut verzichten, wenn nicht einmal mehr erkennbar ist, wo der Rumpf eigentlich hinwill. So fehlt jegliche Substanz für einen fruchtbaren innerparteilichen Streit und kontroversen öffentlichen Dialog.

Noch einmal: Wer die praktischen Erfahrungen und theoretischen Erkenntnisse wirtschaftlicher und sozialer Wirkungszusammenhänge, die man sich in der Vergangenheit mühsam angeeignet hat, mal eben über Bord wirft, der steht vor dem Nichts. So kläglich wie die SPD ist noch keine Institution in diesem kurzen Jahrhundert an sich selbst und an ihren Fehleinschätzungen gescheitert – von gestrauchelten Partnerorganisationen im europäischen Ausland einmal abgesehen. Sozialdemokratie ist eben kein Begriff für beliebige Inhalte oder opportunistische Machtkonzepte. Karriere kann man auch woanders machen. Sozialdemokratie ist das Versprechen auf ein Leben in Würde. Für alle Gesellschaftsmitglieder. Ähnliches gilt im Übrigen auch für den DGB, dessen Vorsitzender an der Konzipierung des Niedriglohnsektors – unter der kumpeligen Schirmherrschaft von Franz Müntefering – aktiv beteiligt war, und dessen tragende Säulen der Mitgliedsgewerkschaften (IG Metall und IG BCE) tief in der Außenhandelsüberschussmaschine verfangen sind. Dass sich ausgerechnet die Chemieabteilung des DGB nachdrücklich für eine GroKo ausspricht, ist da nur konsequent. Die Gewerkschaftsfunktionäre haben so laut nach einem europäischen Sozialmodell gerufen, dass man sie nicht hören konnte. Stimmbruch oder kein Plan? Im Sondierungs-Papier finden sich hierfür jedenfalls keine erkennbaren Orientierungen oder akzeptablen Antworten.

Sackgasse Europa

Wer nicht den Mut hat, die Zerstörung des Sozialstaats und der gesellschaftlichen Verhältnisse auf nationaler Ebene zu beenden und zu korrigieren, der macht in Europa an dem Punkt weiter, wo er national aufgehört hat. Denn dort kann man die Schuldigen finden, die ihm die Rückkehr zu Vernunft basierter Politik angeblich verwehren. In der EU existiert ein reichhaltiges Angebot an Troika Geschädigten, die man im Schlepptau der Union selbst in eine prekäre politische und ökonomische Lage manövriert hatte. Ausgerechnet die von ’sozialdemokratischen‘ Wirtschaftsministern durchgedrückten Freihandelsabkommen, verschärften Wettbewerbsbedingungen, verhinderten Umweltstandards, gedeckten Steuerdeals und abgespeckten Sozialpolitiken sollen jetzt die Blaupause für das neue forcierte europäische Projekt werden? Dann steht einem europäischen Niedriglohnsektor und flächendeckenden Hungerrenten nichts mehr im Weg. Die Annäherung an Jeremy Corbyn und Gleichgesinnte würde da nur stören. makroskop.eu +++