„Sitzen Juden wieder auf gepackten Koffern?“

Daniel Neumann zur Geschichte der Jüdischen Gemeinden in Hessen nach 1945

v.l. Roman Melamed, Bella Gusmann (beide Vorstand Jüdische Gemeinde Fulda), Dr. Michael Imhof, Daniel Neumann. Foto: Hochschule

Trotz des Traumas des nationalsozialistischen Terrors gründeten nach 1945 Überlebende der Vernichtungslager in größeren Städten vereinzelt wieder jüdische Gemeinden. Erst langsam, zunächst eher im Verborgenen, entwickelte sich wieder jüdisches Gemeindeleben. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Zuzug jüdischer Einwanderer aus Osteuropa und den Ländern der ehemaligen Sowjetunion nahm die Zahl der Gemeindemitglieder deutlich zu. Über diese Zeitspanne und die aktuelle Situation in Hessen berichtete Daniel Neumann, der Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen in der Ausstellung „Judentum in der Region Fulda“ in der Hochschulbibliothek auf dem Campus und zeigte „aus erster Hand“ ihre Perspektiven auf.

Deutschland war damals für die Überlebenden der ehemals 500.000 deutschen Juden vor allem ein Umsteigebahnhof, so Neumann. Auf gepackten Koffern sitzenden warteten die meisten auf ein Visum für den neuen Staat Israel, die USA, Kanada und andere. Wer blieb, tat dies oft eher zufällig oder notgedrungen, etwa aufgrund von Krankheit, war zu gebrochen, um nochmal von vorne zu beginnen, oder hatte eine berufliche Perspektive gefunden. Die repräsentativen Studien Mitte der 70er Jahre, die bei 25 Prozent der Befragten in der Bundesrepublik antisemitisches Denken festgestellt hatten, führten außerdem zu der ernüchternden Einsicht, dass das Verschwinden antijüdischer Vorurteile aus der Gesellschaft einerseits keine Frage des Abwartens war und andererseits die enormen Anstrengungen der Alliierten, dem Antisemitismus durch Bildung und Demokratieerziehung zu begegnen nur eine kurze Atempause verschafften.

Von jüdischer Seite entwickelte sich dagegen in den achtziger Jahren ein neues politisches Engagement, wofür u.a. die Person des Zentralratsvorsitzenden Ignaz Bubis stehe. Die Mitgliedssituation der jüdischen Gemeinden aber war von Überalterung geprägt, zumal junge Juden oft den Weg nach Israel oder die USA suchten. Das Ende des jüdischen Lebens mit Sicht auf 20-30 Jahre schien Ende der Achtziger nicht mehr abwegig.

Die Zuwanderung aus Osteuropa nach dem Mauerfall änderte die Situation der jüdischen Gemeinden in Deutschland jedoch grundsätzlich. Denn im Laufe von 15 Jahre wanderten gut 190.000 Juden aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion ein und verschafften den Jüdischen Gemeinden einen wichtigen Energieschub. Gleichzeitig bedeutete die Zuwanderung aber auch große Herausforderungen. Zur beruflichen, sprachlichen und sozialen Integration sei die religiöse Integration von Menschen gekommen, die 70 Jahre in religionsfeindlichen, atheistischen Ländern gelebt hatten.

Darauf war auch Roman Melamed vom Vorstand der Jüdischen Gemeinde in Fulda in seinem Grußwort eingegangen. Er konnte die Situation der jüdischen Gemeinde in der Stadt Fulda in einem positiven Licht darstellen. Einführend hatte Dr. Michael Imhof vom Bildungsverein Zukunft Bildung Region Fulda in seinem Abriss der jüdischen Geschichte vom Mittelalter bis 1945 die Bedeutung des Judentums für die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung in Fulda hervorgehoben. Abschließend stellte Daniel Neumann angesichts des zuletzt wieder vermehrt auftretenden Antisemitismus von Rechts, von Links und von Muslimen die Frage in den Raum, ob Juden in Deutschland in Zukunft in Sicherheit und ohne Angst würden leben können oder ob sie die Koffer wieder hervorholen müssten, um ihrem Deutschland endgültig den Rücken zu kehren. +++ pm