RKI-Chef fordert Maßnahmen zur Kontaktreduktion „jetzt“

Corona-Experten fühlten sich von Politik gemieden

RKI-Chef Lothar Wieler hat in einem ungewöhnlich dramatischen Appell eine Reaktion der Politik auf die explodierenden Corona-Infektionszahlen gefordert. Nach einem von ihm in der Bundespressekonferenz initiierten Schweigemoment für die über 100.000 Toten in Zusammenhang mit dem Virus sagte Wieler: „Ich erwarte jetzt von den Entscheidern, dass sie alle Maßnahmen einleiten um gemeinsam die Fallzahlen herunterzubringen.“ Die Zahl der Kontakte müsse nun deutlich reduziert werden. Der geschäftsführende Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sagte, die Lage sei „dramatisch ernst, so ernst wie noch zu keinem Zeitpunkt in der Pandemie“. Die sich anbahnende Ampel-Regierung hatte dafür gesorgt, dass die förmliche Feststellung der „Epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ diese Woche ausgelaufen ist, was den Handlungsspielraum von Bund und Ländern einschränkt. So sind beispielsweise allgemeine Ausgangssperren jetzt ausgeschlossen. Im Gegenzug wurden neue Maßnahmen eingeführt, wie die 3G-Regel in Bus und Bahn.

Corona-Experten fühlten sich von Politik gemieden

Führende Wissenschaftler kritisieren, die Politik hätte in den vergangenen Monaten wenig Interesse gehabt, mit ihnen über die Coronalage zu sprechen. „Bis auf Anfragen vom Kanzleramt endete der intensive Austausch mit der Wissenschaft zur Sommerpause“, sagte Michael Meyer-Hermann, Physiker und Modellierer am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung, dem „Spiegel“. Erst in den letzten Wochen hätten sich Landespolitiker wieder gemeldet. „Das Prinzip ist leider: je höher die Inzidenzen, desto häufiger die Anfragen.“ Sinnvoll wäre es dagegen gewesen, sich bereits Rat zu holen, als in den Nachbarländern die Zahlen explodierten. Die Braunschweiger Virologin Melanie Brinkmann, Mitglied im niedersächsischen Expertenrat unter Wirtschaftsminister Bernd Althusmann, berichtet Ähnliches. Nach fünf Monaten Pause habe die Runde erst vorige Woche wieder getagt. „Das ist so ein wenig wie bei den Talkshows, die melden sich auch wieder“, sagt Brinkmann. Nur einer der  Länderchefs habe sich kontinuierlich beraten lassen: Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher. Ein Forscher, der anonym bleiben will, kritisiert, die Politik habe sich seit Sommer von der Wissenschaft „entkoppelt“. Für das Bundesgesundheitsministerium weist ein Sprecher derartige Kritik zurück: Jens Spahn habe sich in den letzten 18 Monaten regelmäßig mit Experten aller Fachrichtungen in größeren Runden zur Coronalage ausgetauscht. Spahn habe zudem „mehrfach am Tag“ bilateral mit Experten kommuniziert. Auch die Kanzlerin habe sich „regelmäßig über den aktuellen wissenschaftlichen Stand zu epidemiologischen Fragen informiert“, teilte ein Regierungssprecher mit. Das Corona-Kabinett der Bundesregierung hatte allerdings wochenlang nicht mehr getagt. Der künftige Kanzler Olaf Scholz (SPD) hatte am Mittwoch angekündigt, einen Expertenbeirat im Kanzleramt einzurichten.

Streeck: Südafrika-Mutation nicht aufzuhalten

Der Bonner Virologe Hendrik Streeck befürchtet, dass sich die neue Südafrika-Mutation auf Dauer nicht eindämmen lässt. Wie gefährlich sie wirklich sei, sei aber noch unklar, sagte Streeck dem Nachrichtensender „Welt“. „Es ist eine Variante, die hat ungewöhnlich viele Mutationen im Spike-Protein, 32 Mutationen. Das suggeriert, dass Antikörper schlechter funktionieren, dass Übertragbarkeit und Infektiosität erhöht sind.“ Aber momentan könne man nicht sagen, ob sie besorgniserregend sei und wie stark sie sich ausbreiten wird. „Es ist gut, diese Mutation zu begrenzen, um eine Einschätzung über die neue Variante zu bekommen. Aber langfristig, wenn es eine Mutation ist, die so aktiv wäre, dass sie alles dominiert – und sie ist ja in mehreren Provinzen Südafrikas bereits aufgetaucht – dann wird es schwierig sein, sie jetzt noch einzudämmen.“ Man könne die Ausbreitung verzögern, „aber langfristig wohl nicht verhindern“. Ob die neue Mutation wirklich zu einer großen Gefahr werden könnte, sei aber noch gar nicht endgültig absehbar, so Streeck: „Wir sollten nicht voreilig Schlüsse ziehen, bei so wenigen Daten, die vorliegen.“ Der Grünen-Gesundheitsexperte Janosch Dahmen warnte unterdessen vor gefährlichen Konsequenzen für Deutschland. „Nach allen bisherigen Erkenntnissen macht diese Mutation mit Blick auf Ansteckungsrisiken und andere Veränderungsmerkmale wirklich große Sorgen“, sagte Dahmen der „Rheinischen Post“. „Weitere Analysen stehen noch aus. Aber wir müssen uns auf einen neuen Mutationstyp einstellen, der über die Delta-Variante hinaus sehr gefährlich für uns werden könnte.“ Er gehe weiterhin davon aus, dass die aktuelle Infektionsdynamik in Deutschland von der Delta-Variante geprägt sei. „Dennoch sind die Entwicklung in Südafrika und die jüngsten Warnungen aus der Wissenschaft sehr, sehr besorgniserregend“, betonte Dahmen. Dabei begrüßte er die neue Einstufung von Südafrika als Virusvariantengebiet, die Reisebeschränkungen nach sich zieht. „Es ist daher richtig, dass der geschäftsführende Bundesgesundheitsminister heute unmittelbar reagiert hat und Reisebeschränkungen auf den Weg gebracht hat“, so Dahmen weiter. +++