Merz hört mit – Zum Anfassen

Gerhard Merz

Fulda/Gießen. Die grundlegende Erfahrung der Entfremdung, der der postmoderne Mensch in der globalisiert-virtualisierten Welt unterworfen ist, bringt es mit sich, dass seine Sehnsucht nach dem Unmittelbaren, Konkreten, sinnlich Erfahr-, Greif- und Anfassbaren sich ins Unendliche, ja man könnte sagen: ins Unanfassbar-Unbegreifliche steigert. Der homo hapticus muss etwas zum Anfassen, zum Begreifen haben, wenn er begreifen soll. Wer nicht in diesem Sinne begreift, kann die Dinge nicht auf den Begriff bringen und ist auf ewig den Wörtern ausgeliefert, denn schon Goethe lässt Mephisto sagen: „Denn eben wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.“ Doch das ist ein anderes Thema.

Zurück zum Anfassen. Das muss heutzutage wieder gelernt werden und da ist es ein wahres Glück dass es nicht nur „Methodik zum Anfassen“ gibt, sondern dass auf der Didacta erst kürzlich ein „Programm Lernen zum Anfassen“ präsentiert wurde und dass solchermaßen inspiriert das Jahngymnasium Rathenow „Unterricht zum Anfassen“ anbieten kann.
So gerüstet kann der homo hapticus dann nicht nur „Philosophie zum Anfassen und Ausprobieren“ studieren, sondern natürlich gibt es auch „Geschichte zum Anfassen“ und wer es besonders konkret haben will, der ist hier richtig: „Neandertalmuseum: 20.000 Jahre alte Pfeilspitzen zum Anfassen“. Als Pendant dazu dient „Zukunft zum Anfassen“, nämlich bei – wer würde es glauben – den Wirtschaftsjunioren ausgerechnet des Saarlands.

Angesichts solcher Modernisierungsschübe ist man auch im MINT-Bereich nicht faul, vor allem die Mathematik lässt sich mittlerweile von fast jedem anfassen und zwar auch in ihren Teilbereichen, denn schon gibt es „Brüche zum Anfassen“ und beim Deutschen Zentrum Lehrerbildung Mathematik auch „Geometrie zum Anfassen“. Da heißt es natürlich schnell zugreifen und bloß das Geodreieck nicht vergessen.

Von da aus ist es nur noch ein Quantensprung zur „Physik zum Anfassen“, wo man den Geheimnissen des Quantensprungs auf die Spur kommen kann, um von da aus weiter zur „Chemie/Geologie zum Anfassen“ quantenzuspringen (letztere mit Schwerpunkt im Berchtesgadener Land, wo ja wahrlich an Steinen kein Mangel ist) und allgemeiner gesprochen zu „Natur/Naturwissenschaften zum Anfassen“. Ob freilich das vom XLAB-göttingen entwickelte Konzept „DNA zum Anfassen“ wirklich der Renner wird, muss für den Augenblick dahingestellt bleiben.

Die „Technik zum Anfassen“ kann mit den Unterabteilungen „Messtechnik zum Anfassen“ und „Mikroprozessoren zum Anfassen“ aufwarten, die allgemein zu „Innovationen zum Anfassen“ erweitert werden können. Dass Offenbach nur „Alte Rechner zum Anfassen“ zu bieten hat, wundert nicht wirklich. Im Bereich der „Energie zum Anfassen“ lernen wir, dass es – während man uns früher ohn‘ Unterlass vor dem Anfassen von Stromleitungen warnte – heute sogar „Supraleitungen zum Anfassen“ gibt. Natürlich gibt es auch „Klimawandel“ und „Klimaschutz zum Anfassen“. Da der Strom aus der Turbine kommt, wäre es logisch, wenn es auch diese „zum Anfassen“ gäbe. Das ist auch tatsächlich der Fall, leider ist aber damit der 1. FFC Turbine Potsdam gemeint und ob sich die Lizenz zum Anfassen auch auf dessen Fußballerinnen erstreckt, muss ebenso bezweifelt werden wie ob sich zu der „Pädiatrie zum Anfassen“ irgendwann einmal die „Pädophilie zum Anfassen“ gesellen wird. Die „Radiologie zum Anfassen“ gibt es schon und man fragt sich, ob man dabei über die Apparate hinaus auch zum Anfassen der Strahlen selbst vordringen wird. Wahrscheinlich wird dies der „Radiologie zum Anfassen für Fortgeschrittene“ vorbehalten bleiben. Rätselhaft bleibt, wie man sich „Haltbare Seifenblasen zum Anfassen“ oder „Radioaktivität“ bzw. „Schallwellen zum Anfassen“ vorzustellen hat, schon einfacher erschließt sich, was mit „Landwirtschaft“ und vor allem mit „Tiere zum Anfassen“ gemeint sein könnte, was bei „Biodiversität zum Anfassen“ schon wieder schwieriger ist .

Nachgerade unauflöslich erscheint jedoch der Widerspruch zwischen dem „Anfassen“ einerseits und dem un(an)fassbaren Charakter dessen, was „zum Anfassen“ sein soll, bei solchen Phänomenen wie „Fliegen mit Luft zum Anfassen“, „Webseiten zum Anfassen“ und „Virtuelle Realität zum Anfassen“. Spätestens bei letzterer könnte man meinen, man habe sich vollendet im Kreise gedreht, sozusagen einen „Kreis-Quantensprung zum Anfassen“ hingelegt.

Wasser ist in der modernen Welt nicht nur zum Waschen da, Juppheidi und Juppheida, sondern – man ahnt es – auch „zum Anfassen“ und angesichts dieser Lage der Dinge wundert es wenig, dass es auch „Hamburg Wasser – Wasserwerk und Klärwerk zum Anfassen“ gibt. Da wollte der Landkreis Osnabrück nicht zurückstehen und bietet seinerseits „Die Müllabfuhr zum Anfassen“, wahrscheinlich dem Heinz Erhardt’schen Motto folgend: „Wir wollen von Tonne zu Tonne eilen und dem Müll eine Abfuhr erteilen!“ Was freilich sind der Landkreis Osnabrück und seine Müllabfuhr gegen „Berlin: Die Weltstadt zum Anfassen“ und gegen „Dresden – zum Anfassen. – Mercure Dresden Elbpromenade“.

In der weiten Welt des Sport und des Show-Business gibt es „Motorsport zum Anfassen zu attraktiven Ticketpreisen“ bei der FIA World Endurance Championship und was den Fußballerinnen des 1. FFC Turbine Potsdam noch nicht recht war, das ist dem FC Bayern schon längst billig, denn dort gibt’s natürlich „Bayern-Stars zum Anfassen“. Ob das kombiniert wird mit „Handgezapft – Biermusik zum Anfassen“, ist unklar, sicher ist, dass es „Musik zum Anfassen“ ebenso gibt wie „Acapella“, „Oper“ und „Ein Orchester zum Anfassen“ (nämlich in Bad Reichenhall). „Schlagerstars zum Anfassen“ vermeldet dagegen das Haller Kreisblatt, und das Fachblatt Rolling Stone kündigt an: „Zum Anfassen: Bald gibt es Kuschel-Rapper Cro als Actionfigur“. Natürlich gibt es auch den „Tatort-Kommissar zum Anfassen“, ob aber jemand tatsächlich den „Werbestar zum Anfassen“ braucht, steht dahin. Erfreulich dagegen zweifellos, dass es in Viersen den „Arzt zum Anfassen: ‚Kein Herrgott in Weiß’“ gibt.

Zum Anfassen gibt es selbstverständlich auch „Politiker“, „Politik“ und „Demokratie“ – was angesichts der galoppierenden Entfremdung zwischen Politik und Bürger natürlich auch mehr als angebracht ist. Ob aber der Slogan „Fremde zum Anfassen“ (so DIE ZEIT vom 30.April 2003) wirklich der Weisheit letzter Schluss ist, muss bezweifelt werden, denn leider kommt es ja nach wie vor viel zu häufig vor, dass sich jemand an Fremden vergreift. Der alte Slogan „touche-pas a mon pôte“, also: „Mach‘ (resp. fass‘) meinen Kumpel nicht an!“ erscheint da nach wie vor korrekter. Auf der Höhe der Zeit (aber nicht DER ZEIT) ist dagegen die katholische Kirche, denn was hat sie mit Papst Franziskus? Na klar: den „Papst zum Anfassen“! Und wem das nicht genügt, dem sei zu dem Blockbuster „Die Hütte“ des kanadischen Autors William P. Young geraten. Darin geht es um nicht mehr und nicht weniger als um: „Gott zum Anfassen“! +++ fuldainfo | gerhard merz

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