Der frühere Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) kritisiert das Wahlrechtsurteil des Bundesverfassungsgerichts. „Von der nun beschlossenen überfälligen Verringerung der Zahl der Mandate einmal abgesehen, ist das Urteil für mich keine Errungenschaft“, sagte Lammert dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“.
Deutschland habe ohnehin eines der kompliziertesten Wahlsysteme der Welt. „Das Einzige, was der normale Wähler am deutschen Wahlsystem versteht, ist, dass er mit seiner Erststimme den Wahlkreisvertreter bestimmt. Und genau dieser einzige transparente Teil des Wahlsystems wird jetzt relativiert“, sagte Lammert.
Diese Reduzierung der Mandate von 734 auf 630 solle durch das vom Bundesverfassungsgericht nun akzeptierte Verfahren erreicht werden, indem die Zahl der in den Wahlkreisen direkt gewählten Politiker tendenziell kleiner und damit das Gewicht der Parteien über die Zweitstimmen noch größer werde als bisher.
Dieses Verfahren sei schlecht, „weil das um den Preis erreicht wird, dass ein Wahlkreiskandidat die relativ meisten Stimmen gewonnen haben kann, aber dennoch nicht in den Deutschen Bundestag kommt, während ein an zweiter oder sogar vierter Stelle liegender Kandidat über die Landesliste seiner Partei ins Parlament einziehen könnte. Das erklären Sie mal den Wählern.“
Er sei einst „wie ein tibetanischer Mönch auf alle Beteiligten zugegangen“, insbesondere auf die eigene Unionsfraktion, um das Wahlrecht einvernehmlich und vernünftig zu regeln. Aber das Problem sei ständig vertagt worden. Zur Äußerung von CSU-Chef Markus Söder, wonach die CSU das Aus für das Ampel-Wahlrecht zur Bedingung für eine mögliche Koalition machen werde, sagte Lammert.
„Na ja. Der bayerische Parteivorsitzende hat möglicherweise übersehen, dass es dafür auch im nächsten Deutschen Bundestag einer Mehrheit bedarf.“ Dass die Unionsfraktionsgemeinschaft im nächsten Bundestag allein über eine Mehrheit für die erneute Änderung des Wahlrechts verfügen würde, „ist jedenfalls eine reichlich optimistische Vorstellung.“
Wahlrecht: SPD sieht aktuell keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf
Die SPD sieht keine Notwendigkeit, nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Wahlrecht für die Bundestagswahl im nächsten Jahr Änderungen zu beschließen. Forderungen von CSU-Chef Markus Söder für eine mögliche künftige Koalition wies die Partei von Bundeskanzler Olaf Scholz zugleich zurück.
„Die Kernpunkte und wichtigen Zielsetzungen unserer Wahlrechtsreform sind nun vom Verfassungsgericht bestätigt worden“, sagte SPD-Chefin Saskia Esken dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“. Damit werde die Demokratie gestärkt. Anders als die von CDU und CSU geführten Bundesregierungen habe die Ampel die Kraft aufgebracht, die Größe des Bundestags effektiv von 734 auf 630 Mandate zu begrenzen.
Zur Äußerung von Söder, wonach die CSU das Aus für das Ampel-Wahlrecht zur Bedingung für eine mögliche Koalition machen werde, sagte Esken: „Markus Söder hat zur Reform des Wahlrechts in der Vergangenheit nichts Konstruktives beigetragen.“ Der letzte Reformversuch sei auch deshalb gescheitert, weil er ungerechtfertigte Vorteile für die CSU vorgesehen habe. „Wenn Söder die nun erfolgreiche Reform der Ampel rückgängig machen will, nimmt er in Kauf, dass der Bundestag weiter auf über 800 Mandate anwächst.“
Der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Dirk Wiese sagte: „Aktuell ist kein akuter gesetzgeberischer Handlungsbedarf nötig. Der nächste Bundestag sollte sich mit der Materie aber spätestens befassen, damit das Wahlrecht an der Stelle Sperrklausel für die Bundestagswahl 2029 angepasst werden kann.“ Dafür gebe das Gericht unterschiedliche Lösungswege vor. Darunter falle eine Anpassung der sogenannte Grundmandatsklausel, die Modifizierung der Fünf-Prozent-Hürde oder eine Listenverbindung von CDU und CSU.
„Gerade letzteres wäre ein rechtssicherer Weg.“ Söder solle „etwas mehr Demut zeigen“. Schließlich sei es die CSU gewesen, die jahrelang eine Wahlrechtsreform verhindert habe. +++