Kindesmisshandlung: Jugendämter dramatisch überlastet

Studie und hr-iNFO-Recherchen decken Missstände auf

Kindesmissbrauch

Frankfurt. Zu viele Fälle, zu wenig Personal, unzureichende Ausstattung: Viele Jugendämter in Deutschland sind für den Kampf gegen Kindesmisshandlung schlecht gerüstet. Eine neue Studie der Hochschule Koblenz, die hr-iNFO vorliegt und die am heutigen Montag in Berlin vorgestellt wird, zeigt: Das Ausmaß der Defizite ist enorm. Dies deckt sich mit Befragungen, die hr-iNFO unter anderem in Berlin, Köln, Frankfurt und Wiesbaden durchgeführt hat.

Studie: Es fehlt an allem, Kindeswohl in Gefahr

So frisst allein die Fall-Dokumentation fast zwei Drittel der Arbeitszeit in den Jugendämtern. Nur jeder fünfte Sozialarbeiter schafft es demnach, die für Fallübergaben und Verfahren wichtigen Gesprächsprotokolle während oder noch am Tag des Gesprächs auszufüllen. Mehr als jeder zweite Fall bleibt sogar mindestens eine Woche unprotokolliert und wird zu spät dokumentiert. Auch für die so wichtigen Hausbesuche bei betroffenen Familien bleibt zu wenig Zeit, stellt die Autorin der Studie, die Sozialwissenschaftlerin Kathinka Beckmann, fest. Danach verbringen 58 Prozent der befragten Mitarbeiter der Jugendämter maximal eine Stunde bei Terminen in den Familien. Umgekehrt fehlt in den Ämtern der Raum für eine geschützte Gesprächsatmosphäre. Jeder dritte Sozialpädagoge hat im eigenen Amt kein eigenes Büro, Besprechungsräume sind knapp, so die Koblenzer Studie. Grundsätzlich fehlt in vielen Jugendämtern das Personal, um Kinder und Familien die notwendige Unterstützung zu geben. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Allgemeiner Sozialer Dienst (BAG ASD) fordert, dass sich Vollzeit-Mitarbeiter zum Schutz der Kinder um maximal 35 Fälle gleichzeitig kümmern sollen. Dies wird der Studie zufolge nur von gut zwei Dritteln der Ämter erfüllt.

Verdoppelung des Personals und neue Finanzierungsstruktur notwendig

Derzeit gibt es rund 13.400 Mitarbeiter, die im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) tätig sind. Das ist der Bereich der Jugendämter, der Kinder vor Gewalt, Verwahrlosung und Missbrauch schützen soll. Als Konsequenz aus den Ergebnissen der Studie fordert die Wissenschaftlerin Beckmann 16.000 zusätzliche ASD-Mitarbeiter bundesweit. Ein großes Problem ist auch die Finanzierungsstruktur. Weil größtenteils die Kommunen für den Unterhalt der Jugendämter und damit des ASD zuständig sind, hängt die Ausstattung von der finanziellen Lage der jeweiligen Städte und Gemeinden ab. Diese Verzahnung müsse aufgelöst werden, fordert Beckmann. Die Bundesregierung solle die Kommunen von der Finanzierung befreien, weil Jugendhilfe und Kinderschutz gesellschaftspolitische Aufgaben seien. Es gehe aber nicht nur um Geld, Verbesserungen seien auch in der Kommunikation zwischen Familiengerichten, Polizei und Jugendämtern notwendig. Die Kommunikation zwischen den verschiedenen Stellen sei oft nicht ausreichend, so Beckmann. Sie empfiehlt die Einrichtung eines Bundeskinderschutzbeauftragten: „Jemanden mit Kompetenzen und Befugnissen, der sich auf oberster Ebene einmischt.“

Was ist Misshandlung?

Gewalt gegen Kinder ist in Deutschland seit 18 Jahren gesetzlich verboten, also auch eine bloße Ohrfeige. Viele Stellen sind damit betraut, „Kindeswohlgefährdungen“ nach Paragraph 8a des Sozialgesetzbuches zu verhindern, aufzuklären und zu behandeln: der Kinderschutzbund, die Schulsozialarbeiter, die Jugendämter, die Kinderschutzambulanzen an Unikliniken, Rechtsmediziner und Familiengerichte. Als gefährdet gilt das Kindeswohl, wenn Eltern schlagen, ihr Kind vernachlässigen oder psychisch misshandeln. In Hessen allein gab es 2016 knapp 9.900 Paragraph-8a-Gefährdungseinschätzungen, bundesweit waren es rund 137.000. Die Hälfte der betroffenen Kinder war jünger als sieben Jahre. +++