Juncker kritisiert EU-Staats- und Regierungschefs

Zu den letzten Vollzeiteuropäern zähle er "ohne jeden Zweifel" Merkel

Jean-Claude Juncker

Brüssel. Wenige Tage vor dem 60. Geburtstag der Europäischen Union hat EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker harte Kritik an nationalstaatlichen Tendenzen in Europa geübt. „Mein Eindruck ist, dass es immer weniger Vollzeiteuropäer gibt und immer mehr Teilzeiteuropäer“, sagte Juncker der „Bild am Sonntag“ mit Blick auf die Staats- und Regierungschefs der 28 EU-Mitgliedsstaaten. „Die Teilzeiteuropäer nehmen von Europa das, wovon sie denken, dass es ihnen zustünde. Sie tragen aber nichts dazu bei, dass es überhaupt etwas zu verteilen gibt.“

Zu den letzten Vollzeiteuropäern zähle er „ohne jeden Zweifel“ Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Außerdem den französischen Präsidenten François Hollande, den slowenischen Premierminister Miro Cerar und den belgischen Ministerpräsidenten Charles Michel. Juncker lobte vor den Jubiläumsfeiern am kommenden Wochenende in Rom insbesondere die Leistung der Kriegsgeneration für das „Jahrtausendprojekt“ EU: „Wir stehen auf den Schultern von Giganten und kommen uns dadurch groß vor“, so Juncker. „Wenn ich sehe, was in diesen 60 Jahren zustande gebracht wurde, ist mir schon zum Feiern zumute. Europa ist aus den Ruinen des Zweiten Weltkriegs entstanden. Die Kriegsgeneration, die aus den Konzentrationslagern und von den Frontabschnitten zurückgekehrt ist, hat ein Jahrtausendprojekt entworfen. Das dürfen wir niemals vergessen.“ Die Zukunft der EU sieht Juncker positiv. Das Staatenbündnis werde in 60 Jahren „sicher mehr als 30 Mitglieder“ haben. In seiner Amtszeit werde es aber keine Beitritte mehr geben: „Kein Kandidat erfüllt derzeit die Bedingungen.“

Angesichts des schwindenden Einflusses Europas warnte Juncker vor Abspaltungstendenzen: „Am Anfang des 20. Jahrhunderts haben die Europäer ein Viertel der Weltbevölkerung gestellt, am Ende des 21. Jahrhunderts werden es noch vier Prozent von dann etwa elf Milliarden Menschen sein. Wer angesichts dieser Entwicklung glaubt, man könne Europa wieder in seine Einzelteile zerlegen, der hat nichts verstanden.“ Für den Ausgang der Präsidentschaftswahlen in Frankreich ist Juncker optimistisch: „Die Europäische Union wird Marine Le Pen überleben, weil sie nicht Präsidentin wird. Und selbst wenn sie Präsidentin würde, wäre das nicht das Ende des europäischen Projekts. Aber es stünde uns Ungemach ins Haus. Ich hoffe deshalb, dass in Frankreich die pro-europäischen Kräfte gewinnen werden.“ Rückenwind verspürt der Kommissionspräsident durch die Wahlen in den Niederlanden: „Das Ergebnis ist ein gutes Signal für die Wahlen in Frankreich und in Deutschland.“ Er appelliere an alle überzeugten Europäer, sich endlich auch in Bewegung zu setzen. „Wenn sie auf dem Sofa sitzen bleiben, während die Rechtspopulisten rennen, werden diese immer Vorsprung haben.“ +++