Jugendämter melden Höchststand an Kindeswohlgefährdungen

Lockdown und Kontaktbeschränkungen ein Grund für die Zunahme

Kindesmissbrauch

Die Jugendämter in Deutschland haben im Jahr 2020 bei fast 60.600 Kindern und Jugendlichen eine Kindeswohlgefährdung festgestellt, so viele wie noch nie seit Einführung der Statistik im Jahr 2012. Gegenüber 2009 waren es rund 5.000 Fälle oder 9 Prozent mehr, teilte das Statistische Bundesamt am Mittwoch mit. Bereits in den beiden Vorjahren war die Zahl der Kindeswohlgefährdungen deutlich – und zwar um jeweils 10 Prozent – gestiegen. Neben einer zunehmenden Sensibilisierung der Bevölkerung für den Kinderschutz könnten im Corona-Jahr 2020 auch die Belastungen von Familien infolge der Lockdowns und der Kontaktbeschränkungen ein Grund für die Zunahme gewesen sein, so die Statistiker.

Gleichzeitig sei nicht auszuschließen, dass ein Teil der Fälle, etwa aufgrund von vorübergehenden Schulschließungen, unentdeckt geblieben sei. Bundesweit prüften die Jugendämter im Jahr 2020 knapp 194.500 Verdachtsmeldungen im Rahmen einer Gefährdungseinschätzung, das war en 12 Prozent mehr als 2019 (+21.400 Fälle). Den neuen Ergebnissen zufolge war etwa jedes zweite gefährdete Kind jünger als acht Jahre (51 Prozent) und jedes dritte sogar jünger als fünf Jahre (33 Prozent). Während Jungen bis zum Alter von 13 Jahren etwas häufiger betroffen waren, galt dies ab dem 14. Lebensjahr für die Mädchen. Die meisten Minderjährigen wuchsen bei alleinerziehenden Elternteilen (43 Prozent), bei beiden Eltern gemeinsam (38 Prozent) oder einem Elternteil in neuer Partnerschaft auf (11 Prozent). Etwa die Hälfte (49 Prozent) der betroffenen Jungen und Mädchen hatte zum Zeitpunkt der Gefährdungseinschätzung bereits eine Leistung der Kinder- und Jugendhilfe in Anspruch genommen und stand somit schon in Kontakt zum Hilfesystem. Die meisten Kinder mit einer Kindeswohlgefährdung wiesen Anzeichen von Vernachlässigung auf (58 Prozent). Bei rund einem Drittel aller Fälle (34 Prozent) wurden Hinweise auf psychische Misshandlungen – beispielsweise in Form von Demütigungen, Einschüchterungen, Isolierung und emotionale Kälte – gefunden. In etwas mehr als einem Viertel (26 Prozent) der Fälle gab es Indizien für körperliche Misshandlungen und in 5 Prozent Anzeichen für sexuelle Gewalt. Mehrfachnennungen waren hierbei möglich.

Im Vergleich zum Vorjahr haben alle Arten der Kindeswohlgefährdung an Bedeutung gewonnen. Besonders stark war die Zunahme im Corona-Jahr 2020 aber bei psychischen Misshandlungen. Hier stieg die Zahl der Nennungen um 17 Prozent (+3.100 Fälle). Die meisten der Gefährdungseinschätzungen wurden im Jahr 2020 von der Bevölkerung – also Verwandten, Bekannten, Nachbarn oder anonym – angeregt (27 Prozent). Fast ebenso häufig kamen die Hinweise auf eine mögliche Kindeswohlgefährdung von Polizei oder Justizbehörden (27 Prozent). Mit Abstand folgten Einrichtungen und Dienste der Kinder- und Jugendhilfe oder Erziehungshilfe (13 Prozent) sowie Schulen (10 Prozent). In rund jedem zehnten Fall hatten die Familien selbst, also die betroffenen Minderjährigen oder deren Eltern, auf die Gefährdungssituation aufmerksam gemacht (9 Prozent). Knapp jeder dritte Verdacht auf eine Kindeswohlgefährdung wurde später durch die Jugendämter bestätigt (31 Prozent). In etwa einem weiteren Drittel (34 Prozent) der Fälle stellten die Behörden zwar keine Gefährdung, wohl aber weiteren Hilfebedarf fest und ebenso in rund einem Drittel (35 Prozent) der Fälle erwies sich der Verdacht als unbegründet. Fachleute hatten im Vorfeld der Corona-bedingten Lockdowns davor gewarnt, dass insbesondere durch die Schul- und Kita-Schließungen Kinderschutzfälle unentdeckt geblieben sein könnten. Die neuen Ergebnisse scheinen diese Annahme, zumindest für den Sektor Schule, zu stützen: So sind die Verdachtsmeldungen von Schulen im Jahr 2020 – erstmals in der Statistik und entgegen dem allgemeinen Trend (insgesamt 12 Prozent mehr Verdachtsmeldungen gegenüber 2019) – um 1,5 Prozent zurückgegangen (-300 Fälle).

Dies steht im Gegensatz zu den Entwicklungen der beiden Vorjahre: Im Jahr 2018 hatten die Verdachtsmeldungen von Schulen um 15 Prozent (+2 100 Fälle) und im Jahr 2019 sogar um 17 Prozent zugenommen (+2 800 Fälle). Dagegen scheint die Bevölkerung im Corona-Jahr 2020 erheblich wachsamer geworden zu sein: Gegenüber 2019 sind die Hinweise von Verwandten, Bekannten, Nachbarn und anonymen Meldern um insgesamt 9.100 Fälle angestiegen, das entspricht einer weit überdurchschnittlichen Zunahme um 21 Prozent. Eine Kindeswohlgefährdung liegt vor, wenn eine erhebliche Schädigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls eines Kindes droht oder bereits eingetreten ist. In Verdachtsfällen sind die Jugendämter verpflichtet, durch eine Gefährdungseinschätzung das Gefährdungsrisiko und den Hilfebedarf abzuschätzen und einer Gefährdung entgegenzuwirken. Dazu zählen in der Regel auch ein Hausbesuch und die Erörterung der Problemsituation mit dem Kind und – sofern dies dem Kinderschutz nicht entgegensteht – den Sorgeberechtigten. Im Zweifel kann der Kinderschutz auch durch ein Familiengericht gegen den Willen der Sorgeberechtigten durchgesetzt werden.

Kinderhilfswerk beklagt „kinderpolitisches Versagen“

Das Deutsche Kinderhilfswerk hat angesichts des Höchststandes von Kindeswohlgefährdungen im Corona-Jahr 2020 ein „kinderpolitisches Versagen“ beklagt. „In der Coronakrise wurden viele Kinder und ihre Familien aufgrund eingeschränkter Arbeitsfähigkeit potenzieller Hilfseinrichtungen einer Risikosituation überlassen, ohne dass die Gesellschaft nachhaltig Antwort darauf gefunden hat“, sagte Vize-Geschäftsführer Kai Hanke der „Welt“ (Donnerstagsausgabe). Die Zahlen der Jugendämter, aber auch die Berichte aus Kinder- und Jugendarztpraxen und Psychiatrien zeigten, „dass innerfamiliäre Konflikte im Zuge der Coronakrise deutlich zugenommen haben und viele Kinder und Jugendliche zunehmend Ängste, Vereinsamung, Unsicherheiten und Depressionen zeigen“. Trotz der steigenden Aufmerksamkeit für das Thema Kindeswohlgefährdung befürchtet Hanke eine sehr hohe Dunkelziffer.

Auch die stellvertretende Geschäftsführerin des Kinderschutzbundes, Martina Huxoll-von Ahn, rechnet mit einem großen Dunkelfeld, auch weil einige Jugendämter zu Beginn der Coronakrise nur schwer erreichbar gewesen seien. „Wir gehen davon aus, dass sich die Situation im Lockdown im Winter noch zugespitzt hat“, sagte sie der Zeitung. „Er war für die meisten Familien deutlich anstrengender als der erste.“ Die familienpolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, Ekin Deligöz, sagte unterdessen, dass im Corona-Jahr vor allem die psychische Gewalt gegen Kinder sehr verbreitet gewesen sei. „Die häusliche Enge im Lockdown hat familiäre Konflikte stark befördert. Das wahre Ausmaß der Folgen können wir jetzt erahnen“, so die Grünen-Politikerin. Für ein genaues Bild sei es aber noch zu früh. Positiv bewertete Deligöz die gestiegene Aufmerksamkeit für Kindeswohlgefährdungen: „Die Bevölkerung ist durch die Missbrauchsfälle der letzten Jahre sehr stark sensibilisiert worden.“ Die Gesetzesänderungen der letzten Jahre zeigten Wirkung, das sei zunächst einmal gut. Dadurch werde das Du nkelfeld langsam aufgehellt. +++