Interview mit Vize-Landrat Noll und Fabian Göbel über das Projekt Startpunkt

„Wir helfen, wenn Jugendliche nicht mehr weiter wissen“

Von Drogen, Gewalt bis hin zur Sucht oder Familienkonflikte: Wenn junge Menschen die Kontrolle über ihr Leben verlieren, gilt es, sie wieder auf den richtigen Weg zu bringen. Dabei hilft das Projekt Startpunkt, das der Landkreis Hersfeld-Rotenburg aus Bundesfördermitteln finanziert. Das Bildungswerk der nordhessischen Wirtschaft (BWNW) setzt das Projekt als Träger seit Oktober 2020 im Kreis um. Zuletzt konnte eine Projektfinanzierung bis Ende des Jahres 2022 sichergestellt werden, eine weitere Verlängerung ist möglich. Vize-Landrat und Sozialdezernent Dirk Noll und Fabian Göbel vom Fachdienst Arbeitsmarkt und Integration berichten über das Projekt, das Jugendlichen bei einem Neustart helfen soll.

Warum wird dieses Projekt im Landkreis gefördert?

Noll: Wir haben bei uns im Kreis ein gut aufgestelltes Angebot an Unterstützungsleistungen für Jugendliche. Sowohl die private als auch die öffentliche Hand leisten hier einen großen Beitrag. Aber eben nicht alle Jugendliche können von diesen Angeboten profitieren. Wir als Landkreis sehen unsere gesellschaftspolitische Verpflichtung darin, diese jungen Menschen nicht aus den Augen zu verlieren und Angebote wie das Projekt Startpunkt zu ermöglichen.

Sind denn viele Jugendliche betroffen?

Göbel: Im Landkreis haben sich schätzungsweise 140 Jugendliche von den Hilfe- und Unterstützungssystemen abgewandt. Diese Jugendlichen haben große Schwierigkeiten, in ihrem Leben zurechtzukommen. Unser Ziel ist es, die jungen Menschen in die Mitte der Gesellschaft zurückzuholen und ihnen eine Zukunftsperspektive zu geben. Abhängig vom individuellen Förderbedarf können wir zeitgleich bis zu 12 Jugendliche durch das Angebot unterstützen.

Ist das Projekt denn einmalig im Landkreis oder gibt es bereits ähnliche Projekte?

Noll: Das Projekt richtet sich in erster Linie an junge Menschen in schwierigen Lebenslagen. Diese können eigeninitiativ das offene Café oder eine offene Gesundheitssprechstunde aufsuchen. Sie haben rund um die Uhr verlässliche Ansprechpartner, die sie auch zu Hause oder in ihrem Umfeld aufsuchen und begleiten. Gleichzeitig verbindet es die einzelnen Akteure vor Ort zu einem kooperativen Netzwerk und bietet Familienangehörigen und Freunden Beratung an. Das ist schon ziemlich einzigartig im Landkreis. Das Projekt versteht sich jedoch als Ergänzung zu bestehenden Angeboten. Die Inhalte und Angebote wurden in meinem Dezernat zwischen dem Jobcenter und der Jugendhilfe abgestimmt.

Was sind denn die wesentlichen Ziele des Projektes?

Noll: Keine jungen Menschen im Landkreis aufzugeben! Die Lage am Ausbildungs– und Arbeitsmarkt der vergangenen Jahre ist zwar stabil, täuscht aber leicht darüber hinweg, dass zu viele Jugendliche gar nicht erst in die Lage kommen, eine Ausbildung anzustreben. Wir dürfen nicht vergessen: Insbesondere die Menschen, die an der gesellschaftlichen Peripherie leben und auf kein Helfernetzwerk zurückgreifen können, werden leicht übersehen. Der Zugang zu Unterstützungs- und Sozialleistungen, zum Ausbildungs- und Arbeitsmarkt, zu Therapieangeboten und Gesundheitsversorgung muss allen Menschen offen stehen. Das Projekt soll junge Menschen dazu befähigen, ihre individuelle Situation zu verbessern und eine vollwertige Teilhabe ermöglichen. Und wer könnte das besser, als die kommunalen Akteure und Netzwerkpartner?

Wie erreichen Sie denn die Jugendlichen?

Noll: Da wir die Betroffenen kaum über die gängigen Kommunikationsmittel wie Zeitung, Flyer oder Plakate erreichen können, setzen wir vermehrt auf Social und Cross Media. Die Jugendlichen müssen aber auch direkt an beliebten Plätzen und in deren Umfeld angesprochen werden. Und schlussendlich kommt auch der Mund-zu-Mund-Werbung eine wesentliche Rolle zu. Natürlich müssen auch Eltern, Freunde und Bekannte, aber auch Ausbildende, Schulen und Beratungsstellen über das Projekt Bescheid wissen, um bei Bedarf darauf zurückgreifen zu können.

Angenommen die Jugendlichen haben von dem Projekt gehört und suchen Unterstützung: Haben die jungen Menschen bestimmte Erwartungen?

Göbel: Die Jugendlichen wollen in ihrer Situation ohne Vorbehalte ernst genommen werden. Sie brauchen eine Anlaufstelle vor Ort, die schnell und unbürokratisch erreichbar ist. Das Projekt bietet eine vertrauensvolle Atmosphäre. Die Jugendlichen fühlen sich dort wohl und sicher. Die angebotene Hilfe wird als Unterstützung erlebt und eröffnet neue Perspektiven für die notwendige Veränderungsbereitschaft.

Mit welchen Probleme kommen die Jugendlichen dann zu Ihnen?

Göbel: Die Probleme sind vielfältig und stehen oft in einem kausalen Zusammenhang. Das können Sucht- und Gewalterfahrung, familiäre Konflikte, körperliche oder psychische Beeinträchtigungen, Wohnungslosigkeit oder akute Schuldenproblematik sein. Nicht selten kommen all diese Probleme zusammen. Die jungen Menschen sehen sich oftmals alleingelassen. Sie können ihr Leben nicht mehr bewältigen und kompensieren das dann durch ein Verhalten, was noch mehr Probleme verursacht. Irgendwann kommt dann der Punkt, an dem nichts mehr vor oder zurück geht und genau an dieser Stelle setzt das Projekt an.

Welche Erfahrungen sind in den vergangenen eineinhalb Jahren mit dem Projekt gemacht worden?

Göbel: Seit Oktober 2020 haben wir über 50 Förderungen angestoßen. Nicht alle, aber die meisten davon sind erfolgreich verlaufen. So haben die jungen Menschen zum Beispiel ihre Eigeninitiative gestärkt, ihre Wohnungslosigkeit beendet oder ein Therapieangebot wahrgenommen. In einigen Fällen konnten sogar erste Schritte zur Berufsorientierung eingeleitet werden. Der größte Erfolg zeigt sich darin, dass Jugendliche, die vorher keine Perspektive mehr hatten, oft und gerne die Projektangebote wahrnehmen.

Noll: Wir dürfen auch nicht vergessen, dass die gesamte Projektlaufzeit bisher unter Corona-Bedingungen stattfand. Das hat es nicht nimmer leichter gemacht. Aber der zuständige Fachdienst in meinem Dezernat und das Bildungswerk arbeiten eng zusammen und konnten somit schnell und unkompliziert auf neue Situationen reagieren. Mittlerweile hat sich das Projekt fest im Landkreis etabliert.

Wo liegen künftige Herausforderungen?

Göbel: Es hat sich gezeigt, dass Jugendliche mit dem Gesundheitssystem oft überfordert sind, schlechte Erfahrungen machen mussten oder schlicht keinen Krankenversicherungsschutz haben. Deshalb wird das Thema Gesundheitsversorgung noch mehr in den Fokus rücken. Die offene Gesundheitssprechstunde, die es ja schon gibt, bietet den jungen Menschen die Möglichkeit, erste Schritte zu veranlassen. Nach dem Kriegsbeginn in der Ukraine hat das BWNW die Gesundheitssprechstunde auch für Flüchtende unabhängig vom Alter geöffnet. Das Angebot ist auch in der Integreat-App des Landkreises hinterlegt.

Was würden Sie Eltern, Lehrerinnen oder Ausbildende empfehlen, die sich Sorgen um ihr Kind, ihren Schüler oder ihre Auszubildende machen?

Noll: Wenn es Anzeichen dafür gibt, dass sich junge Menschen zurückziehen, sich abkoppeln oder nicht mehr greifbar sind, dann ist ein erster guter Schritt, sich an die Projektkoordinatoren von „Startpunkt“ zu wenden. Dazu einfach anrufen, eine Whatsapp-Nachricht oder E-Mail schreiben oder im Café Startpunkt vorbeischauen. Die erfahrenen und gut qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter behandeln jedes Anliegen vertraulich. Und selbst wenn mal nicht direkt weiter geholfen werden kann, bekommt man anderweitige Unterstützung benannt. +++ pm