Habeck: Politische Autorität ist bei 25 Prozent eine denkbar schwache

400 Interessierte auf Wahlkampfveranstaltung der Fuldaer Grünen auf Universitätsplatz

Robert Habeck (Grüne)

Robert Habeck, Spitzenkandidat für die Bundestagswahl am 26. September und Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen hat im Rahmen seiner Wahlkampftour unter dem Motto „Bereit, weil Ihr es seid“ am Mittwoch Halt in Fulda gemacht. Etwa 400 Interessierte waren zu der Wahlkampfveranstaltung der Fuldaer Grünen auf den Universitätsplatz gekommen – darunter auch viele junge Menschen. Moderiert wurde die Veranstaltung von Jutta Hamberger, seit März dieses Jahres Stadtverordnete für Bündnis 90/Die Grünen im Fuldaer Stadtparlament. Besonders willkommen geheißen vonseiten der Moderatorin wurden die Direktkandidatin der Fuldaer Grünen für die Bundestagswahl am 26. September für den Fuldaer Wahlkreis 174 (Fulda und Vogelsberg) Gianina Zimmermann, außerdem die beiden hiesigen Landtagsabgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen Silvia Brünnel MdL und Markus Hofmann MdL, mit Ernst Sporer und Joa Christa Sporer, die beiden Gründer von Bündnis 90/Die Grünen in 1980 in Fulda sowie mit Knut Heiland der Vorstandsvorsitzende des Fuldaer Kreisverbandes Bündnis 90/Die Grünen. Ein besonderer Willkommensgruß galt dem langjährigen Fuldaer Oberbürgermeister und Ehrenbürger der Stadt Fulda Dr. Wolfgang Hamberger.

Zu Beginn der Wahlkampfveranstaltung auf dem Universitätsplatz richtete Jutta Hamberger einige Fragen an die Direktkandidatin Gianina Zimmermann. Als Gianina Zimmermann mit gerade einmal 18 Jahren – wild davon entschlossen, in Deutschland eine neue Heimat zu finden, nach Deutschland (Berlin) kam, beherrschte die gebürtige Rumänien weder die deutsche Sprache noch verfügte sie über viele Kontakte. „Wie ist Dir das gelungen, Gianina?“ Darauf die grüne Direktkandidatin: „Ich glaube, das ist ein Prozess. Ich war in der glücklichen Situation, meine Heimat hinter mir zu lassen, ohne Angst um mein Leben oder das Leben meiner Familie. Ich war nicht politisch verfolgt, dennoch wollte ich in Deutschland Fuß fassen. Das ist mir glücklicherweise gelungen, in dem ich rasch die deutsche Sprache erlernte.“ Geholfen haben ihr dabei vor allem das Lösen von Kreuzworträtsel sowie das Schauen von deutschen Nachrichten. „Ich glaube, das ist noch der schnellste Weg, deutsch zu lernen“, erzählt die Migrantin. „Ich habe dann auch meinen Führerschein hier gemacht, mir Arbeit gesucht und Kontakten zu vielen hier lebenden Menschen“, so Zimmermann, die schon bald merkte, dass sie viel Glück gehabt hatte. „Ich habe Menschen getroffen, die mich aufgefangen, unterstützt, motiviert – vor allem aber begeistert haben.“

Gianina Zimmermann: Die Region hat Suchtpotenzial

Vor dem Hintergrund ihrer Kandidatur für den Fuldaer Wahlkreis für die Bundestagswahl am 26. September beabsichtigt Zimmermann, in Fulda sesshaft zu werden. Die Stadt, der Landkreis und die Region Fulda, die sie im Rahmen ihres Wahlkampfes bereits habe kennenlernen dürfen, haben es ihr angetan. „Wir in Fulda sind hier sehr heimatverbunden“, so Hamberger. Auf die Frage, warum sie jedem empfehlen würde, nach Fulda zu kommen, antwortete die Direktkandidatin: „Um ganz ehrlich zu sein – das habe ich bereits getan! Die Menschen der Region sind mir sehr ans Herz gewachsen.“ Spürbar sei auch der Zusammenhalt, den sie im Rahmen ihrer Kandidatur auf ganz besondere Art und Weise erfahren habe. Um es auf den Punkt zu bringen: Die Region hat Suchtpotenzial. Herzlich aufgenommen worden sei sie auch bei den Fuldaer Grünen. „Es freut mich, dass heute auch ganz besonders viele von Euch gekommen sind“, so Zimmermann. In ihrem Leben sei sie viel herumgekommen, auch in Deutschland. Viel habe sie auf ihren Reisen gesehen, was sie in Fulda erfahren habe, bleibe beispielhaft und einzigartig. Die Moderatorin weiter: „Den Grünen wird ja häufig vorgeworfen, eine politische Partei zu sein, die nur intellektuell könnte und keine Ahnung vom Leben einfacher Menschen hätte. Das war schon immer verkehrt. Und der beste Beweis, dass das nicht stimmt, bist Du. Du bist gelernte Krankenschwester, absolviertest zahlreiche Ausbildungen und Berufsqualifikationen. Gianina hat mir erzählt, dass sie nie ausgesetzt habe, weder als ihre Kinder geboren wurden noch als sie ihre Berufsbegleitungen gemacht hat. Hier sind einige Frauen im Publikum, ich glaube, Sie wissen, was das bedeutet… Mein Eindruck ist, liebe Gianina, Du könntest Herrn Gesundheitsminister Spahn einiges über Gesundheit erzählen, wie es wirklich ist. Was würdest Du als Praktikerin im Bereich Gesundheit sofort verändern?“

„Um gut leben zu können, brauchen wir eine Politik, die an die Verhältnisse der Zeit angepasst ist und ein anderes Verständnis für Pflegeberufe“

Gianina Zimmermann: „Ich glaube, heute sind viele Menschen unter uns, die wissen, was es bedeutet, Familie und Beruf ‚unter einen Hut‘ zu bekommen und sie sind trotzdem noch engagiert für diese Gesellschaft, da bin ich kein Einzelfall, genau das ist es aber, was eine Gesellschaft ausmacht.“ Und weiter: „Ich glaube, in den pandemischen Zeiten haben sich viele Menschen mit der Frage beschäftigt, was im Leben wirklich wichtig ist; Und da standen Gesundheit und die eigene Existenz an erster Stelle. Gesundheit ist ein weites Feld. Pflege braucht sicher eine Lobby. Konkret, eine Bundespflegekammer, die fachlich und berufspolitisch begleitet und Pflege stärkt. Zusammenhalt und Stärke ergeben sich hieraus. Um gut leben zu können, brauchen wir eine Politik, die an die Verhältnisse der Zeit angepasst ist und ein anderes Verständnis für Pflegeberufe. Dazu gehört beispielsweise eine 35-Stunden-Woche. Das Applaudieren, wie es jetzt insbesondere in der Corona-Pandemie wahrgenommen wurde, ist super, reicht aber letzten Endes nicht aus. Am Ende stehen die Gehälter. Alle Menschen, die in der Pflege, in der ambulanten Pflege, in der Altenpflege beruflich tätig sind, brauchen andere Rahmenbedingungen, damit Privatleben und Beruf gut miteinander vereinbar sind. Wir brauchen grundlegende Reformen – sowohl für das Krankenhaussystem als auch für das Pflegesystem, im Hinblick auf das Personal, aber auch im Hinblick auf die Menschen, die unsere Hilfe benötigen.“ Eine weitere Frage an die Direktkandidatin betraf die Klimapolitik. Vor dem Hintergrund der Wissenschaft, dass wir (nur) noch 10 Jahre Zeit haben, um die Klimakrise in den Griff zu bekommen und welche ihre drei persönlichen Stichworte zum Thema Klima seien, antwortete Zimmermann: „Ich würde die Frage anders beginnen und hier die Frage adressieren, was ein gutes Leben bedeutet. Gutes Leben bedeutet, gutes Wasser, gesunde Luft und gesunde Nahrungsmittel. All das kann uns niemals eine belastete Umwelt bescheren. Wenn die Natur nicht im Einklang mit sich selbst ist, dann gibt es auch keine gesunden Menschen und auch keine gesunde Wirtschaft und noch weniger ein gesunder gesellschaftlicher Zusammenhalt und Demokratie.“

Gianina Zimmermann: Ich bin fest davon überzeugt, dass in jedem Menschen eine treibende Kraft steckt, um die richtigen Entscheidungen zu treffen

In Zeiten des Wahlkampfes habe man viele Menschen angetroffen, die im Hinblick auf ihre Wahlentscheidung verunsichert seien. „Gianina, Du hast mir an anderer Stelle mal gesagt, nicht wählen zu gehen, sei überhaupt gar keine Option. Und zuzuschauen erst recht nicht. Welche Entscheidungshilfen gibst Du unseren potenziellen Wählerinnen und Wählern heute mit?“ Gianina Zimmermann: „Nicht wählen zu gehen, ist natürlich auch eine Entscheidung, wenn man aber darüber nachdenkt, was diese Entscheidung in der heutigen Gesellschaft und in der heutigen Zeit, auslöst… Ich bin ein Mensch, der auch an die Konsequenzen denkt. Es war glaube ich noch nie so spät wie heute, einer Klimakatastrophe zu begegnen und dafür Sorge zu tragen, dass wir morgen sicherer leben, dass wir morgen überhaupt gut leben können, und das sind wir unseren Kindern und Enkelkindern schuldig. Als Mutter kann ich das sagen und ich glaube, es geht Ihnen wie sie heute hier sind, ähnlich. Ich bin fest davon überzeugt, dass in jedem Menschen eine treibende Kraft steckt, um die richtigen Entscheidungen zu treffen.“ Denjenigen, die hinsichtlich ihrer Wahlentscheidung noch unsicher sind, entgegnete die grüne Direktkandidatin, sich an den Wahlständen zu informieren und mit den politischen Bewerbern ins Gespräch zu kommen. Etwas parteipolitischer wurde die grüne Politikerin aber dann doch noch: „Schenken Sie uns Ihr Vertrauen. Wir haben es verdient, wir haben die Konzepte, wir haben passende Lösungen und wir wissen, um was und wie es geht. Eine Regierung ab Oktober ohne uns Grüne ist wie Klima ohne Schutz.“

Im Namen von Bündnis 90/Die Grünen aber auch im Namen von allen Menschen, die sich gestern auf dem Universitätsplatz versammelten, hieß Jutta Hamberger den Bundesvorsitzenden und Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl am 26. September Robert Habeck aufs herzlichste in Fulda willkommen. „Du wirst einiges über Fulda gehört oder gelesen haben. Du wirst wissen, dass manches davon in Fabelverband gehört – anderes stimmt aber auch“, sagte sie. In ihrer „Liebeserklärung“ an Fulda, wie sie selbst sagte, ging Hamberger auf die Stadt, ihre Menschen und Aushängeschilder ein. „Ja, Fulda ist konservativ und katholisch, aber genauso auch modern und offen. Die Stadt ist geprägt von Barock und von Bonifatius. Der war Missionar. Das ist eine, wie ich finde, weniger schöne Eigenschaft, sie hat sein Leben auch dramatisch verkürzt. Er war aber auch der erste Europäer und das wiederum finde ich sehr spannend an Bonifatius. Wir haben dort hinten eine der ältesten romanischen Kirchen Deutschlands stehen und man muss nicht religiös sein, um in der Michaelskirche spirituell berührt zu werden. Und wenn Du Dich umdrehst, hast Du hinter Dir eine der bekanntesten Bauwerke der modernen Stadtarchitektur stehen, das Kaufhaus ‚Karstadt‘, das von Sep Ruf 1964 gebaut wurde.“ Hamberger weiter: „Fulda ist sowohl Sitz der Deutschen Bischofskonferenz als auch des Evangelischen Kirchentags. Wir haben womöglich immer recht konservative Bischöfe, wir haben aber auch den besten Stadtpfarrer, den man sich denken kann. Fulda ist Musicalstadt, jedes Jahr kommen über 70.000 begeisterte Musical-Fans hierher. Seit zwei Jahren sitzen wir wegen Corona auf dem Trockenen, aber nächstes Jahr gibt es die Weltpremiere von Robin Hood. Du solltest wirklich mal jenseits des Wahlkampfs hierherkommen, vielleicht ins Musical, ich bin mir sicher, Du hättest sehr viel Freude daran. Fulda jedenfalls ist jede Reise wert. Fulda hat aber auch eine lange Weinhistorie. Ohne uns gebe es keinen Spätlesereiter; und ohne den Spätlesereiter gebe es keine Spätlese und das wäre nun wirklich ziemlich doof.“ In diesem Kontext verwies Jutta Hamberger auf das Spätlesereiter-Denkmal, welches sich seit kurzem im neu- und barrierefrei gestalteten Innenhof des Fuldaer Stadtschlosses befindet.

„Fulda ist aber auch Hochschulstandort seit 1974 und es sind inzwischen 9.500 Studierende, die aus 60 Studiengängen auswählen können.“ „Ist hier überhaupt Platz für Grün“, stellte Hamberger die rhetorische Frage. „Aber hallo“. „Uns Grüne gibt es in Fulda, solange es Grüne gibt“, womit die Moderatorin auf den gestern auf dem Universitätsplatz anwesenden Ernst Sporer und die anwesende Joa Christa Sporer, die Gründer der Fuldaer Grünen, verwies. „Ich glaube, die beiden können sehr viel glaubhafter als ich sagen, dass grüne Ideen in Fulda zunächst etwas argwöhnisch beäugt wurden, aber so langsam und allmählich setzte sich doch das eine oder andere durch.“ Weiter verwies Jutta Hamberger auf das 1994 in Fulda eröffnete erste Hessische Umweltzentrum, das seinerzeit von Joschka Fischer eröffnet wurde als er noch Hessischer Umweltminister war. „1994 fand in Fulda auch die erste Landesgartenschau statt und die stand unter dem Motto ‚Ökologie‘. Und wenn in zwei Jahren hier wieder eine Landesgartenschau stattfindet, ist deren Motto ‚Nachhaltige Stadtentwicklung.‘ Seit 2019 ist Fulda auch Sternenstadt. Überhaupt waren wir die allererste deutsche Stadt, die diesen Titel erhalten hat, um gegen Lichtverschmutzung vorzugehen. Na, wenn das nicht grün ist, dann weiß ich es auch nicht. Fulda ist auch eine Hessische Klimakommune – dank eines Antrags der Grünen.“ Trotzdem – und das bleibe auch richtig – gebe es in Fulda aus Sicht der Grünen „noch richtig viel tu tun“. „Ich weiß nicht, lieber Robert, was Du in Deiner Rede sagen wirst, aber eines bin mir sicher: es wird ein Wort ganz besonders oft darin vorkommen – nämlich Veränderung. Es gibt genügend wichtige Themen – Klimakrise, der Umbau der Sozialsysteme, aber natürlich auch der ökologische Umbau unserer Wirtschaft. Dieses Land kann so viel mehr, wenn man es nur lässt“, so Jutta Hamberger. Der Bundesvorsitzende und Spitzenkandidat von Bündnis 90/Die Grünen für die Bundestagswahl Robert Habeck MdB dankte für das zahlreiche Erscheinen und bekundete seine persönliche Freude, in Fulda sprechen zu dürfen. In seiner etwa 50-minütigen Rede ging der Spitzenpolitiker auf das ein, worum es bei der Wahl am 26. September geht und wo die Grünen politisch stehen. „Es ist so, dass mit dem Ausscheiden von Bundeskanzlerin Angela Merkel eine politische Ära zu Ende geht“, so Habeck, der fortfuhr: „Eine Ära, die sich mit dem Namen von Angela Merkel als Person verknüpft. Und ganz gleich, wie diese Wahl am 26. September ausgehen wird, sicher ist: wir werden einen neuen Bundeskanzler oder eine neue Bundeskanzlerin bekommen. Mit dem Ausscheiden von Angela Merkel scheidet aber nicht nur eine Person aus dem Amt, sondern meiner Ansicht nach ändert sich auch tatsächlich Zeitgeschichte oder müsste sich jedenfalls ändern.“ Wahlkampf und Wirklichkeit kämen nach Auffassung des grünen Bundesvorsitzenden noch nicht gut übereinander. Der Wahlkampf reiche nicht an die Wirklichkeit heran. Indikator hierfür seien die Umfragen. Die Zahl der Menschen, die unentschlossen seien, sei groß, wie sie vielleicht noch niemals so kurz vor einer Wahl gewesen ist. Dies läge aber erkennbar nicht daran, dass die Menschen nicht politisch interessiert seien. Wahrzunehmen sei ein waches, politisches Bewusstsein. „Die klimatischen Veränderungen dominieren die Nachrichtenlage – die Brände, die katastrophalen Unwetter, die Regenfälle, die nationale Katastrophe in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Wir kriegen aktuell ganz bewusst mit, wie neue Technik in unseren Alltag eindringt, wie Freundschaften und Partnerschaften sich verändern, weil wir sie über digitale Medien organisieren, wie sich unsere Sprache verändert, wie sich durch die Digitalisierung die politische Kommunikation verändert, wie Schule und Unterricht, Betrieb und Arbeitsform immer stärker digitalisiert und robotisiert werden.“ Ein Manko wäre, das dies alles nicht politisch diskutiert werde.

„So schlimm die militärische Niederlage ist, die moralische Niederlage, die in Afghanistan erlitten wurde, ist noch so viel schlimmer“

Habeck weiter: „Die Situation in Afghanistan, die militärische Niederlage des Westens, der Nato, der Bundesrepublik mit verstörenden Szenen, die man der Nachrichtenlage entnommen hat, wenn Soldaten, gestandene Kerle mit breiten Schultern, die in ihrem Leben wahrscheinlich mehr erlebt haben und werden, wie ich es jemals tun werde, dann mit tränenerstickter Stimme in den Nachrichten gesprochen haben, dass das vielleicht alles umsonst war… – der Tod von Kameraden, von Freunden, von Brüdern und Schwestern, das Leid, welches sie erlebt haben, welches auch durch uns zugefügt wurde -, dann ist das ein Einschnitt. Hinzukomme die moralische Niederlage: […] dass wir es nicht hinbekommen haben, die Menschen, die in unserem Vertrauen, im Vertrauen auf das Wort des Westens, der Bundesrepublik, der Bundesregierung, dass in Afghanistan Menschenrechte, der Schutz von Pressefreiheit, der Schutz von Mädchen und Frauen die Zukunft sein werden, ihr Leben riskiert haben und mit dem Risiko alleine gelassen zu werden ihr Leben aufs Spiel gesetzt zu haben. So schlimm die militärische Niederlage ist, die moralische Niederlage, die in Afghanistan erlitten wurde, ist noch so viel schlimmer. Wir spüren, dass wir uns in einer Umbruchszeit befinden und diese Umbruchszeit wird bedauerlicherweise politisch nicht tiefgründig genug diskutiert.“ „Mit dem Ende der Ära Merkel geht auch eine politische Kultur zu Ende, die glaubte, politische Debatten einschläfern zu können; die in Bequemlichkeit, in einem Modus so nach dem Motto ‚Wir müssen uns darüber nicht streiten, es wird schon ein gutes Ende finden‘ agiert hat. Wenn man aber sieht, wie zerbrechlich, wie fragil und angegriffen unsere Wirklichkeit ist und die existenzielle Erfahrung, die es bedeutet. Die Ereignisse in Afghanistan sind nicht nur abstrakte Nachrichten, es sind sehr konkret Menschen betroffen. Die aktuellen Ereignisse erlauben es nicht, dass wir in einer Politik verharren, die an den Problemen gemessen, Antwortverweigerung entgegensetzt. So kommen wir nicht damit durch. Wir müssen raus aus unserer Komfortzone und für die Gegenwart konkrete Antworten liefern.“ „Diese Schlafwagenmodus-Politik, wie sie von Angela Merkel in ihrer Amtszeit als Bundeskanzlerin praktiziert wurde und die für die GroKo ein Stück weit zum Sinnbild geworden ist, nämlich immer erst dann zu handeln, wenn das Kind schon fast in den Brunnen gefallen ist, kann für uns nicht mehr zukunftsfähig sein. Wir müssen uns trauen, Antworten zu geben und eine politische Kultur einzufordern, die um Antworten streitet.“ Habeck weiter: „Diejenigen, die gesagt haben, das abzusehen sei, dass Armin Laschet der nächste Bundeskanzler wird, die kämpfen heute gegen die 2. Liga.“

„Wer Kanzler dieses Landes werden will, muss einen Plan haben, von dem, was er mit diesem Land vorhat“

Nach dem Bundesvorsitzenden der Grünen hätten die Parteien, die im Moment nach aktuellen Umfragewerten hinten liegen dennoch eine reelle Chance am 26. September ein gutes Wahlergebnis einzufahren. „Die Voraussetzung dafür ist, sie trauen sich, Antworten zu geben. Auch wir Grüne können das schaffen“, motivierte er seine Parteimitglieder. Nach Habeck bereits jetzt abzusehen sei, dass die Partei, die nachher ihren Bundeskanzler stellt bzw. ihre Bundeskanzlerin, mit womöglich 25 Prozent die stärkste Partei sein wird. Eine politische Autorität ist bei 25 Prozent eine denkbar schwache. Mit 25 Prozent Kanzler bzw. Kanzlerin zu werden, das hat es in Deutschland so auch noch nicht gegeben. Wir erleben also auch parteipolitisch eine Umbruchsituation. „Wer Kanzler dieses Landes werden will, muss einen Plan haben, von dem, was er mit diesem Land vorhat. Die Antworten, die ich eingefordert habe, müssen dann gegeben werden, dies auch, damit es keine demokratische Frustration gibt. Wenn sie nicht gegeben werden, dann haben wir nur zwei Alternativen – entweder die Regierung scheitert an der Größe der zu bewältigenden Probleme, einer Neubestimmung der deutschen und europäischen Außenpolitik oder wir kommen zu einer Politik, die es schafft, die digitalen Großkonzerne auch endlich einmal in die Pflicht zu nehmen, ihre Steuern zu zahlen, die es vor allem hinbekommt, die globale Erderwärmung so zu bekämpfen, dass wir in Deutschland unseren Beitrag leisten, damit wir in Deutschland auch von anderen verlangen können, dass sie ihren Beitrag leisten.“ „Wir haben eine besondere Verpflichtung, weil wir als Industrieland natürlich vor allem Produzent von CO2 sind. Wir haben vor allem aber auch eine moralische Verpflichtung, in die Gänge zu kommen, weil die anderen 98 Prozent der Erdbevölkerung niemals in die Gänge kommen werden, wenn wir als reiches Land nicht unsere Hausaufgaben machen. Wenn andere Länder nicht dazu bereit sind, aus der Kohle auszusteigen, dann müssen wir eben aus der Kohle aussteigen“, so Habeck. Bezugnehmend auf den Wahlkampfslogan von Bundeskanzlerin Angela Merkel „In einem Land, in dem wir gut und gerne leben“ sagte Habeck: „Wie sieht die neue Außenpolitik aus? Welche Steuern müssen geändert werden, damit sich Google, Facebook und Amazon an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligen? Wie sorgen wir für sozialen Ausgleich? Was tun wir dagegen, um die CO2-Emmissionen herabzusetzen? Und wenn man dann solche Sätze, wie ‚Sie kennen mich.‘ oder ‚In einem Land, in dem wir gut und gerne leben.‘ hört oder sich vergegenwärtigt, dass eine politische Kultur, die sich bisher gescheut hat, Antworten auf diese Frage zu geben und auch noch erfolgreich damit gewesen ist, so merkt man, dass hierauf keine Antworten gegeben wurden, sondern ein Modus von Antwortverweigerung gefahren ist. Kümmert Euch nicht darum, das wird schon alles werden. Wir machen bequem weiter. Das wird für die Zukunft nicht mehr funktionieren.“

„Wenn eine Gesellschaft vielfältiger, diskussionsfreudiger und auf der Suche nach Orientierung ist, dann braucht es ein neues Verständnis vonseiten der politischen Kultur selbst“

Weiter ging der Bundesvorsitzende der Grünen am Mittwoch auf die Debattenkultur im Bundestagswahlkampf ein, die nur keine sei. „Halten wir die Fragen ins Licht. Lernen wir wieder miteinander zu streiten und Streit auch einander zuzuhören, auch dem anderen mal recht zu geben, wenn er einen guten Punkt hat“, gab Habeck seinen Parteimitgliedern für die nächsten Wochen mit auf den Weg. Und weiter: „Aber halten wir nicht daran fest, dass Streitlosigkeit, Sprachlosigkeit vonseiten der Politik zu gesellschaftlichem Erfolg führen kann. Denn das wäre eine Zumutung, eine Talkshow, in der nicht richtig gestritten wird. Wir befinden uns in einem Wahlkampf, in dem es nicht darum geht, den Regenschirm richtig zu halten, sondern in dem Antworten in ihrer Konsequenz für die Gesellschaft gegeneinandergehalten werden, ein Wahlkampf, der viel mehr zumutet. Und ja, man geht bei konkreten Antworten das Risiko ein, unangenehme Nachfragen beantworten zu müssen bzw. sich in Debatten zu verstricken, aber wenn wir die Schlafwagenbequemlichkeits-Politik durchbrechen wollen, im Wissen, und auch gemessen an den Umfragen, dass die Bindung an Parteien schwächer wird, so ist das ein Indiz dafür, dass Menschen ihre Meinung ändern und auch dafür, dass sie zuhören und überzeugt werden wollen.“ Der Spitzenkandidat für die Bundestagswahl weiter: „Wenn eine Gesellschaft vielfältiger, diskussionsfreudiger und auf der Suche nach Orientierung ist, dann braucht es ein neues Verständnis vonseiten der politischen Kultur selbst. Das ist der Punkt, an dem wir Grüne uns gegenwärtig befinden und den wir uns als politische Partei erarbeitet haben. Das hoffe ich zumindest.“ Ferner ging der Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen am Mittwoch in Fulda auf ihre parteipolitische Historie ein. „Als Bürgerbewegung, als Emanzipationspartei gestartet sind wir heute natürlich immer noch Partner von vielen Emanzipations-Bewegungen. Aber heute – 40 Jahre später – haben wir eine andere Gesellschaft. Die festen Bindungen an den Parteien bestehen nicht mehr und die Suche nach Antworten dominieren und definieren das politische Geschäft. Also muss sich auch die Rolle unserer Partei geändert haben, und das ist der Anspruch, aus dem auch die Kanzlerkandidatur von Annalena Baerbock erwachsen ist. In einer neuen Zeit nicht nur die Antworten neu zu denken, sondern auch die Form von Politik neu zu denken.“ An Jutta Hamberger gerichtet, sagte Habeck: „Mit den Möglichkeiten einer Stadtgesellschaft, mit ihren unterschiedlichen Konfessionen, Veränderungen über den öffentlichen Raum zu schaffen, hast Du, liebe Jutta, im Grunde ins Bild gefasst, was wir politisch jetzt als Angebot an die Menschen darstellen wollen, nämlich Bündnisse schaffen. Grün zu sein, ist der Versuch, das Zentrum der Gesellschaft neu zu denken.“

„Grün zu sein, ist der Versuch, das Zentrum einer Gesellschaft neu zu denken“

Hatte man zur Gründungszeit von Bündnis 90/Die Grünen mit dem für Wahlplakate viel zu langen und womöglich etwas altmodisch klingenden Namen so seine Schwierigkeiten, trifft er heute den Nerv der Zeit. „Heute würde ich sagen, dass der Gedanke von Bündnissen das modernste politische Konzept überhaupt ist. Es bedeutet, aus der Mitte der Gesellschaft, nicht mehr von der Nische, sondern vom Zentrum einer Gesellschaft. Es bedeutet Akzeptanz für jeden einzelnen Menschen – ungeachtet seiner Hautfarbe, Religion, Herkunft oder sexueller Orientierung. Es bedeutet, dass Menschen verschiedene Leben leben mit unterschiedlichen Wertevorstellungen und sich dennoch einigen können, auf gemeinsame große Ziele, über Kontroversen und Antworten hin zu einer Verabredung zu kommen, wie wir es gemeinsam angehen wollen. Grün zu sein, bedeutet schon lange nicht mehr der Versuch, eine alte Volkspartei zu sein, in der man prinzipiell das Gleiche will und denkt; Es ist der Versuch, das Zentrum einer Gesellschaft neu zu denken.“ Im Anschluss an die Rede zollten die Zuhörerinnen und Zuhörer auf dem Universitätsplatz Robert Habeck regen Beifall. Gianina Zimmermann und Jutta Hamberger verabschiedeten den Spitzenpolitiker neben Dankesworten mit zwei Präsenten, eines davon handgefertigt und in goldener Farbe. „Es soll symbolisieren, dass Ihr – Du und Annalena – Gold für uns seid. Es kommt von Herzen!“ +++ jessica auth

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