Ex-Außenminister Fischer: Coronakrise führt zu „Vorsorgestaat“

Nationale Alleingänge wären der sichere politische und ökonomische Selbstmord

Der frühere Außenminister Joschka Fischer (Grüne) sieht die Coronavirus-Pandemie als eine „historische Zäsur“ wie sie die heute lebenden Generationen noch niemals erlebt hätten. Die Erfahrung lehre, dass solch schwere Erschütterungen in der Vergangenheit nicht ohne gefährliche Verwerfungen geblieben seien, schreibt er in einem Gastbeitrag für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ . „Vor allem für die Demokratien des Westens wird die Frage aufgeworfen, ob sich im Gefolge dieser Krise am Ende gar die Systemfrage stellen wird: Freiheit und Solidarität gegen Gesundheit und ein Überleben der Wirtschaft? Jung gegen Alt in einem erbitterten Generationenkonflikt? Autoritärer Staat gegen freiheitliche Demokratie?“

Denkbar sei aber auch, dass aus dieser Krise eine neue Solidarität erwachse, innergesellschaftlich und international, dass aktuelle Krisen und Konflikte überwunden werden könnten. Unter dem Druck der Krise werde sich das Verhältnis  von Markt und Staat im Westen fundamental ändern, so Fischer. „Der Staat wird sehr viel mehr zum steuernden Vorsorgestaat werden.“ Der Anteil des Staates werde wachsen und sollte nach dem Ende der Krise wieder zurückgeführt werden: „Am besten, indem man dann allfällige Reprivatisierungserlöse in einen Staatsfond überführt und so die Allgemeinheit beteiligt.“ Der „Vorsorgestaat“ werde jedoch nicht abermals in ein vergleichbares Desaster wie jetzt hineinlaufen dürfen. Es werde dabei auch um die Stabilität, Effizienz und die Kosten der Gesundheitssysteme gehen. „Diese Krise hat gezeigt, dass das Gesundheitssystem nicht wirklich privatisierbar ist. Es gehört unverzichtbar zur gemeinschaftlichen Daseinsvorsorge und strategischen Sicherheit. Und insofern werden wir dort mehr Staat und weniger Markt bekommen.“ Auch im pharmazeutischen Sektor werde der Fokus verstärkt auf die Medikamentenversorgung und Forschung im eigenen Souveränitätsbereich liegen als auf Abhängigkeiten von internationalen Lieferketten, die im Ernstfall leicht versagen könnten.

Der Vorsorgestaat werde seine Führung in allen strategischen Fragen gegenüber der Wirtschaft beanspruchen und auch durchsetzen, schreibt Fischer weiter. Die Digitalisierung werde in Europa durch diese Krise einen gewaltigen Schub erleben und die Europäer mehr als zuvor, vor die Frage ihrer digitalen Souveränität stellen. „Dabei wird man sich weniger mit einem totalitären Modell wie in China auseinandersetzen müssen, als vielmehr mit einem demokratischen Modell wie in Südkorea.“ Zur künftigen Rolle der EU zur Bewältigung der Pandemie und ihrer Folgen schreibt Fischer, dass sich „der gemeinsame Markt, die gemeinsame Währung und die Zentralbank“ zur Krisenbewältigung für die Europäer als unverzichtbar erweisen würden. „Diese Krise zwingt die Europäer noch mehr zusammen, zu mehr Solidarität, denn was wäre die Alternative?“ Nationale Alleingänge wären „der sichere politische und ökonomische Selbstmord der beteiligten EU-Mitgliedstaaten, und den wird es nicht geben“. +++